Die Demokratie denken

Zu den Legenden, die das Jahr 1968 in die Welt gesetzt hat, gehört auch die Erzählung, wonach erst mit der Studentenbewegung der Weg frei geworden sei, die ‚verdrängte‘ Vergangenheit aufzuarbeiten und die Gesellschaft demokratisch zu erneuern.

Gedanken für den Tag 28.2.2019 zum Nachhören (bis 27.2.2020):

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In dieser Sicht erscheinen die 1950er und 1960er Jahre als eine Art von konservativem Mittelalter vor der Zäsur von 1968. Der unbequeme Denker Karl Jaspers ist ein gutes Beispiel dafür, dass es schon unmittelbar nach 1945 Stimmen gegeben hat, die sich kritisch mit einem Zeitgeist auseinandergesetzt haben, der von einer stillen Versöhnlichkeit gegenüber der damals tatsächlich jüngsten Vergangenheit und damit von einer Unversöhnlichkeit gegenüber deren Kritikern getragen war.

Wolfgang Müller-Funk
ist Literatur- und Kulturwissenschaftler

Chance einer freien Welt

Die Idee der Demokratie sieht Jaspers durch einige Faktoren bedroht, durch den reinen Formalismus ohne entsprechende Offenheit in Kommunikation und Auseinandersetzung, durch Formen der Manipulation und durch die Übermacht von bestimmten Wirtschaftsinteressen. Eine solche Einschätzung bleibt heute im digitalen Zeitalter durchaus aktuell. Der kühle Einsatz von Tatsachenfälschungen, die irreversiblen Verleumdungen missliebiger Kontrahentinnen und Kontrahenten oder das ungenierte Lügen im Namen der eigenen Sache sind beredte Beispiele dafür, was Jaspers meint.

In der Demokratie steckt die Chance einer freien Welt, die die Unabhängigkeit der Menschen gewährleistet und deren sie zu ihrer Realisierung auch bedarf. Jaspers, der sich in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1945 in beinahe alle politischen Debatten der Bundesrepublik einmischt, spitzt diesen Sachverhalt zu, wenn er meint, dass die Demokratie gegenüber Formen „totaler Herrschaft“ einzig den Vorzug habe, dass es eine Chance, „frei zu werden“, gibt. Ein Ort, in dem diese Freiheit erprobt werden kann, ist für Jaspers die Universität. In ihrer Beschaffenheit spiegelt sich nicht zuletzt die Beschaffenheit des demokratischen Gemeinwesens.

Musik:

Christian Funke/Violine und Herbert Kaliga/Klavier: „Romanze für Violine und Klavier op. 6 Nr. 1“ von Sergej Rachmaninoff
Label: Ars Vivendi 2100156