Das Heft aus Feuer

Nese Yacin ist Dozentin für türkische Sprache und Literatur an der Universität Zypern, Soziologin, Radiomoderatorin und Friedensaktivistin.

Gedanken für den Tag 20.3.2019 zum Nachhören (bis 19.3.2020):

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Mein Vater sagt,
Dass jeder Mensch
Sein Land lieben muss.
Mein Land ist
Geteilt in zwei Hälften.
Welchen der beiden Teile
Soll ich nun lieben?

Heißt es in einem Gedicht der türkisch-zyprischen Autorin Nese Yacin. 1965 flüchtete sie mit ihrer Familie in den Norden der Insel. Aus politischer Überzeugung siedelte sie später in die Republik Zypern um, wo sie sich seither in der griechisch-türkischen Bürgerbewegung engagiert. Yacin gießt die Erfahrung ihrer zweifachen Vertreibung in poetische Form:

Das Heft aus Feuer

Nichts kann ich genau erzählen,
eine Illusion ist der Bericht.
Das Leben, von der Zeit beklagt,
ist wirklich ein Wald,
wild und tyrannisch.
Das Wort schmerzt so tief,
dass ich an Orten,
seit Jahrhunderten zerbrochen,
morsche Kladden rieche,
aus der Asche, die mich schuf,
unbekanntes Schämen ernte.
Ein wenig bin ich die anderen,
die anderen - ein wenig sind sie auch ich,
ein nackter Zweig in klirrender Kälte,
eine wilde Stimme aus langer Nacht.
Das Gesicht meiner Mutter,
völlig erschöpft -
Kind war mein Vater,
wehrlos war er, nahm daraus die Kraft.
Was war denn ich,
was meine Brüder, die Schwestern,
sahen sie nicht,
dass mein Körper winzig war?
Knirschend wurde ich zermalmt.
In ein Heft aus Feuer kratzte ich die Worte,
die mein Sehnen flüsterte,
damit sie frei wird, meine Seele, von fremder Gewalt,
auf dass meine Stimme einen Geliebten erreicht.
Warum wissen die Meister der Worte nicht,
was an Leben man in den Häusern zerschoss?
Die Begriffe, die sie schufen: Sprachlos sind sie
für das Stöhnen der bedrückten Mädchen.
In dem Krickelkrakel der Notizen
verbarg sich ein Leben auf der Flucht -
als ob es ein anderes Land gäbe,
jenseits des Menschen.
Das Rosenmädchen, das im Haus verwelkte,
fürchtete die Einsamkeit, und dennoch:
Träume rief der Morgen dann herbei,
auf das Stöhnen hockten sich die Lichter.
Immer verflucht wurden die Kladden,
in die man sich einschreibt und sich bekennt,
auf dass die Straße kein Wort verstört.
Allen gab das Leben einen Platz
und streifte sie, zog dicht an ihnen vorbei,
an den Einsamkeiten kratzend.
Die herzlosen Worte, die man mich lehrte,
nie ließen sie meine Stimmbänder zittern.
Immer wurde die heimliche Geschichte
der traurigen Mädchen
mit Worten geschrieben, die es nicht gibt.
(Aus dem Türkischen von Monika Carbe)

Buchhinweis:

„Zypern literarisch“, herausgegeben von der Botschaft der Republik Zypern in Berlin

Musik:

Ensemble PAN - Project Ars Nova: „Bonne et belle - Instrumentalstück für Laute"
Label: New Albin Records NA 038 CD