Bibelessay zu Lukas 15, 1 – 3. 11 – 32

Kaum etwas regt Menschen mehr auf und provoziert mehr Widerstand als eine ungerechte Behandlung. Es scheint in uns ein äußerst empfindliches Sensorium für Ungerechtigkeiten aller Art zu geben – vor allem, wenn man selbst davon betroffen ist.

Es ist also kaum verwunderlich, wenn das biblische Gleichnis vom Vater und seinen beiden Söhnen bei manchen seiner Hörerinnen und Hörer Unmut hervorruft, genauer gesagt die augenfällige Ungleichbehandlung der beiden Söhne durch ihren Vater. Die wird vom älteren, dem daheim gebliebenen Sohn auch ganz offen angesprochen: Er führt Beschwerde über die Ungleichbehandlung, die ihm verglichen mit seinem Bruder zuteilwird; und ein modernes, egalitär geprägtes Gerechtigkeitsempfinden gibt ihm wohl auch spontan recht. Da erfährt der Jüngere ein Übermaß an Zuwendung, obwohl er das in keiner Weise verdient hat; dem anderen, dem Braven und Anständigen, dem, der alle Erwartungen erfüllt, dem Leistungsträger wird dagegen nur ein blasser, geradezu gelangweilter Zuspruch zuteil: „Du bist (ohnehin) immer bei mir, … alles, was mein ist, ist auch dein.“

Markus Schlagnitweit
ist Akademikerinnen- und Künstlerseelsorger der Diözese Linz und Rektor der Ursulinenkirche in Linz

Exklusivität einer Liebesbeziehung

Wäre es für diesen älteren Sohn unterm Strich nicht eigentlich auch besser gewesen, er hätte sein Leben hemmungslos genossen und alles versoffen, um anschließend heimzukehren und sich dem Vater in die Arme zu werfen wie der Jüngere? – Es gibt auf diese Frage dummerweise keine sichere Antwort. Es gibt darüber keine Gewissheit, weil der Vater offenbar nicht nach einem logisch-rationalen, berechenbaren Prinzip handelt: nicht nach „Wie du mir, so ich dir“; nicht nach dem utilitaristischen „Do ut des“; auch nicht nach dem Leistungsprinzip. – Nein, der Vater handelt aus Liebe. Und die folgt nun einmal keinem Kalkül. Wirkliche Liebe ist letztlich unberechenbar, weil sie frei erwählt, und sie wirkt deshalb zuweilen auch ungerecht.

Bezogen auf die erotische Spielart der Liebe, ja auch noch in Bezug auf die Freundesliebe scheint das noch niemanden zu stören: Da ist es völlig klar und selbstverständlich, dass ein geliebter Mensch ohne Angabe von Gründen bevorzugt wird gegenüber anderen und anders behandelt wird als diese: liebevoller eben, interessierter, leidenschaftlicher. Und niemand hat auch ein Problem damit, dass jeder Liebesbeziehung eine gewisse Exklusivität und Intimität eignet, die andere ausschließt und nur dem Geliebten zuteilwird. Für einen Liebenden sind eben nicht alle Menschen gleich-gültig.– Der biblische Text aber ist eine Parabel auf die Liebe Gottes – und insofern schon starker Tobak.

Die ganz andere Gerechtigkeit Gottes

Würde ich so eine Ungleichbehandlung etwa akzeptieren in der eigenen Familie? Kann ich einem Gott vertrauen, der seine Kinder so ungleich liebt?

Lebenskunst
Sonntag, 31.3.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Vielleicht wird man dem biblischen Text aber nicht gerecht, wenn man ihn einfach 1:1 überträgt auf innerfamiliäre Beziehungen, aus denen das Gleichnis genommen ist. In Wahrheit variiert diese Parabel nur ein weiteres Mal eine Kernaussage der biblischen Botschaft: Gott liebt tatsächlich nicht alle gleich. Es gibt eine vorrangige Option Gottes für Arme, für Kranke, für am Rande der Gesellschaft lebende und sonst wie vom Leben benachteiligte Menschen, und – davon handelt insbesondere das Gleichnis vom Vater und seinen beiden Söhnen – es gibt auch eine besondere Hinwendung Gottes zu Sündern und Verirrten, sofern sie ihren bisherigen Weg verlassen und neu beginnen wollen. – Aber ist das nicht auch eine Spielart von Gerechtigkeit?

Gottes Gerechtigkeit mag vielleicht ungerecht erscheinen im Sinne eines egalitären oder dem Leistungsprinzip verpflichteten Gerechtigkeitsbegriffs, wie er in unserer Gesellschaft vorherrscht und von vielen Verantwortungsträgern in Politik und Wirtschaft propagiert wird. Genau diesen Begriff von Gerechtigkeit aber stellt die biblische Botschaft entschieden in Frage; sie setzt ihm die ganz andere Gerechtigkeit des biblischen Gottes entgegen: Aufmerksamkeit, Zuwendung, Solidarität – nicht in dem Maß ein Mensch es verdient, sondern: benötigt. – Gelänge das Zusammenleben in unserer Welt letztendlich nicht besser, friedlicher und liebevoller, gäbe es mehr von dieser so ganz anderen Gerechtigkeit Gottes?