Unsichtbares sichtbar machen

Sie ist das Kind eines Webers und einer Fabriksarbeiterin. Unehelich geboren in Brünn. Wie sie elf Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter, der Vater geht weg auf Arbeitssuche.

Sie wohnt bei einer Frau, der sie für das Bett zahlen muss. Auf Vermittlung ihrer Bettfrau arbeitet sie einige Jahre in einer Fabrik. Sie verdient nicht viel beim Wolle klauben. Wie sie 19 Jahre alt ist, kündigt ihr die Bett-Vermieterin, weil sie den Platz braucht. Das Mädchen findet zuerst einen Job als Hausgehilfin, geht dann nach Wien, wo sie in einer Greißlerei arbeitet. Dort bekommt sie außer dem Essen keinen Lohn. Sie lernt einen Wiener Buchdrucker kennen, bekommt mit ihm zwei Kinder, er stirbt, wie das zweite drei Wochen alt ist. Damals ist sie 24 Jahre.

Martin Schenk
ist Sozialexperte der Diakonie Österreich

Am liebsten ruhig leben

All das erzählt sie – jetzt 74-jährig – der jungen Studentin Marie Jahoda, die für ihre Dissertation in Wiener Versorgungshäusern Interviews führt. Wir schreiben das Jahr 1931. Jahodas Arbeit gibt Auskunft über Lebensläufe und Lebensverhältnisse der unteren sozialen Klassen um die Jahrhundertwende. In den Versorgungshäusern verbrachten Männer und Frauen ihren Lebensabend, wenn sie chronisch krank, pflegebedürftig und mittellos waren. Die Dissertation, die jetzt erst veröffentlicht wurde, trägt den klingenden Titel „Anamnesen im Versorgungshaus. Ein Beitrag zur Lebenspsychologie“.

Ich habe die Arbeit mit den Lebensgeschichten der Frauen und Männer aufmerksam gelesen. Mir fällt dieser besondere Blick der jungen Sozialwissenschaftlerin auf, mit dem sie die Geschichten erzählt, nämlich: „Nicht beweisen, sondern entdecken“. Und: „Das Unsichtbare sichtbar machen“. Ihre Interviews sind offen, sie bemüht sich um Erzählfluss, dazwischen gibt es Ergänzungsfragen.

Zwischenruf
Sonntag, 31.3.2019, 6.55 Uhr, Ö1

Die beste Zeit ihres Lebens war, als sie jung war, sagt die alte Frau im Versorgungshaus. Die schwerste Zeit, wie der Mann gestorben ist. Sie hatte dann nie mehr freie Zeit, nicht gelesen, nicht getanzt, kein Theater. Stress, Druck, Arbeit, Abhängigkeit und Armut prägten den Alltag. Wenn sie noch einmal auf die Welt käme, was würde sie da tun, fragt Marie Jahoda. Die alte Frau im Armenhaus antwortet: „Am liebsten allein und ruhig leben.“

„Ich vergesse dich nicht“

In den Geschichten dieser Männer und Frauen spiegeln sich die sozialen Verwerfungen eines Jahrhunderts mit all den lebensweltlichen Verstrickungen wieder. Die hohe Sterblichkeit der Kinder, die miesen Arbeitsverhältnisse ohne soziale Sicherung, die sozial-ständische Ordnung, aber auch das unbändige Ringen um Unabhängigkeit und Lebensfreude.

Auch hier fällt wieder diese besondere Perspektive auf: der neugierige und beobachtende Blick auf die konkrete Lebenswelt. Und das Interesse für reale Probleme von Menschen, die nicht im Licht stehen. Das gilt damals wie heute. Es untergräbt die Demokratie, wenn die vielen leisen Stimmen ungehört bleiben, die ganz gewöhnlichen Existenzen vernachlässigt und die scheinbar banalen Lebensläufe missachtet werden.

Im Buch der Geschichten, in der biblischen Story des Propheten Jesaja, heißt es: „Ich vergesse dich nicht. Ich habe Dich in meine Hand geschrieben“. Geschichten zu erzählen, von denen keiner erzählt. Das braucht es. Einen Alltag sichtbar zu machen, der nicht im Licht steht. Stimmen zu verstärken, die gewöhnlich überhört werden. Das Unsichtbare sichtbar zu machen.

Buchhinweis:

Marie Jahoda, „Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klasse 1850 - 1930“, StudienVerlag