Bibelessay zu Johannes 20, 19 – 31

„Thomas, der Zweifler“ – unter diesem Beinamen ist der Apostel im Zentrum der heutigen Evangelienstelle bekannt geworden. Weniger im allgemeinen Bewusstsein verankert sein dürfte dagegen sein anderer, im Evangelium tatsächlich überlieferter Beiname: Zwilling.

Vielleicht ist damit gemeint: Thomas könnte vielen Menschen ein Zwilling sein, aufs Engste verwandt und ähnlich – und zwar darin, wovon diese Ostererzählung handelt: verwandt in Zweifel und Skepsis. Teilt Thomas darin nicht die religiöse Glaubenssituation von vielen – zumal in Hinblick auf die so schwer fassbare Osterbotschaft von der Auferstehung? Welcher Zeitgenosse kann denn behaupten, den Auferstandenen gesehen, gespürt, berührt zu haben? Heute sind alle – wie Thomas – angewiesen auf die Berichte und Zeugnisse anderer.

Markus Schlagnitweit
ist Akademikerinnen- und Künstlerseelsorger der Diözese Linz und Rektor der Linzer Ursulinenkirche

Zum österlichen Glauben kommen

Die daraus resultierenden Zweifel kann, soll und darf niemand ruhigen Gewissens an der Kirchentüre abgeben: Sie sind integraler Bestandteil modernen Glaubens. Und ähnliches gilt für die „aktive“ Form des Zweifels – die Skepsis, geboren aus der Verbindung des Zweifels mit der Gabe des Denkens. Skeptisches Befragen religiöser Glaubenstradition ist ja keineswegs schon ein Zeichen von Unglauben oder gar spöttischer Verachtung – im Gegenteil: Skepsis ist für mich „Frömmigkeit des Denkens“! Skepsis ist letztlich sogar Gewissenspflicht jedes zu kritischem Denken fähigen Menschen und ein Hinweis, wie ernst ein Mensch es meint und nimmt mit seinem Glauben.

Was aber ist dann mit diesem anderen Wort, das in diesem Evangelium begegnet – mit diesem: „Selig, die nicht sehen und doch glauben.“? – Gewöhnlich wird dieses Wort gedeutet als Zurechtweisung des Zweiflers und Skeptikers und als Lob des blind Vertrauenden. Weshalb aber geht der Auferstandene dann unmittelbar davor so sehr auf Thomas ein? Zerriss er dessen Glaubensnebel nicht gerade durch sein Erscheinen und seine Aufforderung zur Berührung – und nur dadurch? – Vielleicht ist die Seligpreisung der ohne Sehen Glaubenden bloß eine Feststellung, vielleicht auch ein Wort des Mitleids; ein Wort, das einfach um den bohrenden Schmerz skeptischen Zweifels weiß, diesen aber keineswegs tadelt oder gar verbietet, weil das ja gar nicht sinnvoll ginge.

Lebenskunst
Sonntag, 28.4.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Und vielleicht ist dann die Erzählung der Begegnung Jesu mit dem Zweifler Thomas eine Art Parabel darüber, wie ein Mensch überhaupt zum österlichen Glauben kommen kann: eben durch Sehen und Berühren! Es wäre vielleicht schön, ginge es auch ohne das – deshalb: „Selig, die nicht sehen und doch glauben.“ Aber das entspricht nun einmal nicht dem Wesen des Menschen, nicht seiner kritischen Vernunft und nicht seiner häufig durch Enttäuschung und Missbrauch gering gewordenen Bereitschaft, blind zu vertrauen. Nein, die meisten Menschen brauchen konkrete, handfeste Zeugnisse von Auferstehung, um glauben zu können – und das heutige Evangelium bejaht diese Notwendigkeit!

„Notwendigkeit handfester Glaubenserfahrung“

Damit meine ich nicht unbedingt wirkliche Erscheinungen des Auferstandenen. Die sind äußerst unwahrscheinlich. Ich denke da an konkretere Ostererfahrungen: Menschen etwa, die selbst in Situationen aussichtsloser Krankheit ihre Hoffnung und ihren Lebensmut nicht verloren haben, sondern ihren Weg tapfer, aber ohne Verbissenheit, sondern sogar versöhnt weitergegangen sind. Ich denke an Menschen, die trotz tiefer Verletzungen fähig sind, erlittenes Unrecht zu verzeihen, und zu echter Versöhnung bereit sind. Ich denke an Menschen, die anderen einfach mit Vorschussvertrauen, Güte und bedingungsloser Wertschätzung begegnen, obwohl sie darin schon oft enttäuscht und ausgenutzt wurden.

Ich bin überzeugt: Wer zumindest einen anderen Menschen auf so eine Weise glauben sah, wer in irgendeiner Weise berührt wurde vom Leben eines solcherart Glaubenden – dessen eigener Glaube kann auch den Ernstfall des Zweifels bestehen. – Ich denke, Thomas sollte nicht nur als Zweifler im Gedächtnis bleiben, sondern auch als Prototyp dafür, wie ein Mensch durch Zweifel und Skepsis hindurch zum Glauben finden kann.