Bibelessay zu Johannes 10, 27 – 30

Ehrlich gesagt gehört die Vorstellung von Menschen als Schafen und dem einen Hirten zu jenen Bildern, mit denen ich mir immer schon schwertue. Ich stelle mir keine romantische Szene von Schäfern und friedlich grasendem Vieh vor. Ich denke an wenig intelligente Tiere mit Herdentrieb. Und immer ist da auch das Bild von den Schafen, die zur Schlachtbank getrieben werden.

Ja, ehrlich gesagt möchte ich kein Schaf sein, und ich zweifle sehr, dass ich das Zeug zu einem guten Hirten hätte. Lieber umgebe ich mich mit Menschen, die einen eigenen Willen, eigene Gedanken, eine reife und gebildete Persönlichkeit besitzen. Dabei ist gerade in diesen Tagen das Bedürfnis nach starken Männern und Frauen, das Verehren von Idolen, das Anhimmeln von Stars und Sternchen wieder groß in Mode. Die Sehnsucht nach Autorität, nach Führungspersönlichkeiten ist stark.

Gerhard Langer
ist katholischer Theologe und Judaist am Institut für Judaistik der Universität Wien

Der erste Hirte war Abel

Freilich ist mir bewusst, dass das Bild vom Hirten ein sehr altes ist und mit ihm eine Reihe von Vorstellungen verbunden waren, die über Kontrolle und Herrschaft und fast willenlosen Gehorsam weit hinausgehen. In den alten orientalischen Kulturen, in der römischen und griechischen und in der jüdischen und christlichen Bibel ist der Hirte das wahrscheinlich stärkste Motiv für die Sorge um die Schwachen, den Einsatz für Gerechtigkeit, der Verantwortung der Regierenden für das Volk, das ihnen anvertraut ist, so etwa auch am Beispiel von David oder Mose. Aber es ist keineswegs ein romantisches Bild.

Der erste in der Bibel genannte Hirt war Abel. Er wird das erste Mordopfer der Geschichte, erschlagen vom Jäger und Sammler Kain, dem eigenen Bruder. In der sumerischen Mythologie wird der Hirtengott Dumuzi, der Mann der Liebesgöttin Inanna, der Tag und Nacht seine Schafe bewachte, erschlagen und seines Viehs beraubt und wird schließlich zum Gott der Unterwelt.

Lebenskunst
Sonntag, 12.5.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Werte und Ideale, die die Zeiten überdauern

Wenn Jesus in der christlichen Tradition als Hirt dargestellt wird, dann schwingen auch jene Motive wie sein tragischer gewaltsamer Tod mit. Der Text des Evangeliums versichert eine Gruppe von Menschen, die sich ganz und gar auf den Hirten Jesus verlassen haben, dass auch über seinen Tod hinaus sich die Treue zu ihm lohnt, dass anders als bei weltlichen Idolen und Mächtigen die Verbindung nicht abreißen wird.

Diese Botschaft höre ich gern. Sie sagt mir, mit aller Vorsicht die letzte Hoffnung und das tiefste Vertrauen nicht an Dinge oder Menschen zu hängen, deren Macht endlich, deren Glanz vergänglich ist. Als religiöser Mensch lege ich meine Hoffnung in eine höhere Macht, als säkularer Mensch glaube ich daran, dass es Werte und Ideale gibt, die die Zeiten überdauern. Dabei müssen wir wohl immer wieder die Bereitschaft haben, uns Menschen anzuvertrauen, die mehr wissen, die uns etwas beibringen können, deren Kompetenz und Weisheit uns weiterbringt, damit wir letztlich selber einmal zu wissenden, denkenden und selbstbewusst agierenden und reflektierenden Menschen werden können.