„Finger, rein von Blut und Geld“

„Gestern Nachmittag lernte ich Gustav Landauer kennen, der einige Tage das Schicksal und speziell das geistige Schicksal Münchens – er selber hoffte: Bayerns – bedeutet hat...

Gedanken für den Tag 14.5.2019 zum Nachhören (bis 13.5.2019):

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Nur die lang herabfallenden Haare verrieten den Sonderling; sonst macht der hagere Mann mit dem ergrauenden Vollbart einen völlig kultivierten, weder revolutionären noch proletarischen Eindruck; die großen braunen Augen blicken viel eher gütig als fanatisch, Stimme und Ausdrucksweise sind von geschliffener Milde.“

Das unzerstörbare Individuum

So wurde Gustav Landauer von dem einzigartigen Tagebuch-Autor Victor Klemperer am 18. April 1919 geschildert – zwei Tage, nachdem Gustav Landauer von seinen Ämtern in der Münchner Räterepublik zurückgetreten war. Klemperer war wie Landauer Jude, aber für die Räterepublik hatte er nicht die geringste Sympathie; doch Landauer beschrieb er als einen Mann „mit Fingern, die von Blut und Geld rein sind“.

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

Das Scheitern des hochgebildeten anarchistischen und pazifistischen Schriftstellers hat Klemperer aber bereits zwei Tage nach Ausrufung der Münchner Räterepublik hellsichtig vorausgesehen: Er war sich sicher, Landauer werde „bald … zu Gewalttaten gedrängt oder von Gewalttätigen beiseite geschoben“. Eingetreten ist Zweiteres – die Kommunisten haben in der Räteregierung das Ruder übernommen. Aber weit gewalttätiger waren die Freikorps und die Reichstruppen, die den 49-jährigen Landauer wie Hunderte andere ohne Gerichtsverfahren ermordeten.

Gustav Landauer hat sich als Denker und als Redner zeitlebens für Sozialismus und Revolution engagiert, aber er verstand darunter etwas ganz anderes als der Marxismus. Landauer war Anarchist, und das definierte er 1911 in seiner Zeitschrift „Der Sozialist“ mit folgenden Worten: „Die Anarchie ist der Ausdruck für die Befreiung des Menschen vom Staatsgötzen, vom Kirchengötzen, vom Kapitalgötzen; Sozialismus ist der Ausdruck für die wahre echte Verbindung zwischen den Menschen, die echt ist, weil sie aus dem individuellen Geist erwächst, weil sie als das ewig Gleiche und Eine im Geist des einzelnen, als lebendige Idee blüht, weil sie zwischen den Menschen als freier Bund ersteht.“

Gustav Landauers Ausgangspunkt war das Individuum, der einzelne Mensch, und in ihm sah er etwas Unzerstörbares, das man freischaufeln, dem man eine Chance geben muss.

Buchhinweise:

  • Cornelius Hell, „Ohne Lesen wäre das Leben ein Irrtum. Streifzüge durch die Literatur von Meister Eckhart bis Elfriede Gerstl“, Verlag Sonderzahl
  • „Meister Eckhart. Mystische Schriften“, Übersetzung und Nachwort von Gustav Landauer, Insel Verlag
  • Gustav Landauer, „Skepsis und Mystik“, Büchse der Pandora
  • Gustav Landauer, „Die Revolution“, Edition AV
  • Gustav Landauer, „Aufruf zum Sozialismus“, Inktank Publishing
  • Gustav Landauer, „Shakespeare“, Hansebooks
  • Victor Klemperer, „Man möchte immer weinen und lachen in einem". Revolutionstagebuch 1919“, Aufbau Verlag

Musik:

Tomáš Višek/Klavier: „Shimmy-Blues: Moderato“ aus: Vier Tänze op. 39 für Klavier von Alois Hába
Label: Supraphon SU 31462131