Bibelessay zu Offenbarung 21, 1 - 5a

„Gottesvergiftung“ nannte der Psychotherapeut Tilmann Moser seine Erfahrung mit christlicher Erziehung und nahm Gott ins Kreuzverhör: „Dein Hauptkennzeichen für mich ist Erbarmungslosigkeit. Du hattest so viel an mir verboten, dass ich nicht mehr zu lieben war.“

Ein Vierteljahrhundert später hat Tilmann Moser Zugang zu einem anderen Gottesverständnis gefunden und schreibt: „Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott“. Vielen geht es wie Tilmann Moser: Ihre erworbene Gottesvorstellung verstellt den Zugang zu dem, der mich – wie ich ihn erfahren habe - hinausführt ins Weite, von dem die Bibel in spannungsreichen und widersprüchlichen Bildern erzählt.

Martin Jäggle
ist katholischer Theologe und Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit

Vision von neuem Himmel und neuer Erde

Die Brille, mit der die Bibel gelesen wird, führt oft zu Sehfehlern. Dann dominieren Bilder von Gewalt, Strafe, Rache, Unbarmherzigkeit, jene dunklen Bilder, die geeignet sind, Menschen klein zu halten und Angst zu machen. Diese Gottesvorstellungen müssen zerbrechen, bevor Menschen an ihnen zerbrechen. Zu oft werden sie als typisch für das Alte Testament gehalten und dessen zärtliche Bilder übersehen. Wie jenes des Propheten Hosea, das Gott geradezu mütterlich zeigt: „Ich war da für Israel wie die, die den Säugling an ihre Wangen heben.“ (Hos 11,4)

Typisch für diese Inszenierung des Schrecklichen ist das letzte Buch der christlichen Bibel mit dem Titel „Offenbarung“, griechisch „Apokalypse“ genannt. Der Boom an apokalyptischen Filmen vom Untergang der Welt führt dramatisch vor Augen, wie sehr Schrecken und Angst zur alles dominierenden Botschaft der Offenbarung geworden sind. Aber für mich wird am Ende eines Buches erkennbar, worauf es letztlich ankommt:

Lebenskunst
Sonntag, 19.5.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Soeben war der Anfang vom Schluss des Buches Offenbarung zu hören, die große Vision vom neuen Himmel und der neuen Erde, vom neuen Jerusalem, von Gott, der unter den Menschen wohnt und alle Tränen abwischen wird. Von Angst und Schrecken steht hier nichts mehr, denn letztlich geht es um eine verheißungsvolle Zukunft möglichst für alle.

Das verwirkte Paradies wird neu geschaffen

Die Bilder dieser Vision stammen aus der heiligen Schrift Israels, dem Alten Testament, das selbst als gute Nachricht, als ein Evangelium des Trostes verstanden werden will. Johannes, der christliche Autor des biblischen Buches Offenbarung, nimmt für seine Vision jüdische Trostbilder aus dem Buch des Propheten Jesaja: „Und Gott, der Herr, wird die Tränen von jedem Gesicht abwischen“ (Jes 25,8b), oder: „Denn vergessen sind die früheren Nöte (…). Ja, siehe, ich erschaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde.“ (Jes 65,16e-17) Schließlich noch: „Wie einen Mann, den seine Mutter tröstet, so tröste ich euch; in Jerusalem findet ihr Trost.“ (Jes 66,13)

Am Anfang der Bibel steht der Paradiesgarten, am Ende steht „die heilige Stadt, das neue Jerusalem“, die „von Gott her vom Himmel herabkommt“ und zum Wohnort Gottes wird: Menschen und Gott in einer Wohn- und Lebensgemeinschaft, in der Gott zuerst jede einzelne Träne abwischen wird, damit sich alle freuen können, dass Trauer und Tod keinen Platz mehr haben.

In der himmlischen Stadt sind die vier Ströme des Paradieses zu einem Strom, dem Wasser des Lebens, vereinigt. Der eine „Baum des Lebens“ wird zu einer Allee von Lebensbäumen, deren Früchte gegessen werden dürfen und heilen (Offb 22,1-2). So schließt sich der Kreis am Ende der Bibel, das verwirkte Paradies wird neu geschaffen.