Bibelessay zu Apostelgeschichte 2, 1 – 11

Zu Pfingsten feiert die Kirche ihre Gründung durch den Heiligen Geist. Man könnte auch sagen: Sie feiert heute Geburtstag.

Es ist bemerkenswert, wie die Apostelgeschichte von diesem Gründungsakt berichtet. Noch lange, bevor von kirchlichen Ämtern, Strukturen und Institutionen die Rede sein wird, erzählt diese Schriftstelle von einem dynamischen Prozess, einem grenzüberschreitenden Ereignis: Menschen unterschiedlichster Herkunft, Sprache und Kultur verstehen plötzlich die großen Taten Gottes, von denen die Jünger sprechen – jede und jeder in seiner eigenen Sprache. Möglich wird dies kraft des Heiligen Geistes.

Regina Polak
ist Leiterin des Instituts für Praktische Theologie an der Universität Wien

50 Tage

Um die tiefere Bedeutung dieses Ereignisses zu verstehen, ist es wichtig, sich zunächst zu erinnern: Laut biblischer Überlieferung war Jesus auf Golgotha am Kreuz gestorben, nach drei Tagen von Gott auferweckt worden. Die Apostelgeschichte erzählt, dass der auferstandene Christus dann 40 Tage lang den Jüngerinnen und Jüngern erscheint und danach in den Himmel entrückt wird. Und damit stellt sich für jene, die ihm folgen, die Frage: Was nun? Wie geht es weiter? Was ist unsere Aufgabe? Verunsichert ziehen sie nach Jerusalem zum Pfingstfest und erhalten nach neun Tagen des Rückzugs und Gebets Antwort.

Das Wort Pfingsten leitet sich vom griechischen Wort Pentekoste ab, und dies bedeutet „50“. 50 Tage nach Pessach aber feiert das jüdische Volk Schawuot, das Wochenfest. Zu diesem Wallfahrtsfest strömen auch die jüdischen Jüngerinnen und Jünger Jesu. Dabei erinnern sie sich an den Empfang der Thora, der Weisung und Gesetze Gottes, am Berg Sinai, durch den sie zum Volk Israel wurden. Zugleich ist es ein Fest der Ernte: der Naturgaben ebenso wie der Früchte, die ein Leben mit der Thora mit sich bringt. Der Evangelist Lukas, der Verfasser der Apostelgeschichte, bettet die Gründungsgeschichte der Kirche also in die Geschichte des Volkes Israel ein. Was nun geschieht, das Sprechen und Verstehen in vielen Sprachen, ist in gewissem Sinn ein Wunder. Indem Gott seinen Geist, den Heiligen Geist, als Beistand schenkt, verstehen alle, die versammelt sind, jüdische und nicht-jüdische Menschen, die Botschaft der Jünger. Die Kirche wird geboren: aus dem Geist Gottes und dem Verstehen der Botschaft. An ihrem Beginn steht ein geistiges Beziehungs- und Sprachereignis, das die Grenzen zwischen den Völkern überwindet, ohne die Unterschiede aufzuheben.

Fest der Vielfalt

Der Heilige Geist Gottes: Das ist für mich die den Menschen zugewandte Wirklichkeit Gottes, die Anwesenheit Gottes zwischen den Menschen. Der Heilige Geist verbindet Menschen, untereinander und mit ihrem Schöpfer. Er stiftet Beziehung, auch zwischen denen, die einander fremd sind. Er eint und versöhnt die Menschen. Er bringt in Bewegung und schafft lebensförderliche Unruhe. Er sorgt dafür, dass Gottes Wort durch den Auferstandenen von allen verstanden werden kann.

Lebenskunst
Sonntag, 9.6.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Die Jüngerinnen und Jünger Jesu, einfache Leute aus Galiläa, bekommen an diesem Geist Anteil. Sie verwandeln sich, fassen Mut und verfügen nun plötzlich selbst über all seine Gaben. So wird es ihnen sogar möglich, ihre Botschaft von Gottes großen Taten in der Sprache der anwesenden Fremden auszudrücken. Sie benötigen dazu keine Einheitssprache. Pfingsten ist daher auch ein Fest der Verwandlung durch den Geist Gottes und ein Fest der Vielfalt.

Völker und Kulturen miteinander versöhnen

Am Beginn der Kirche steht also die Glaubenserfahrung, dass die Einheit in der Vielfalt von Gott selbst gestiftet wird. Sie muss nicht durch Uniformität und eine Einheitssprache hergestellt werden. Einheit bedeutet Einigkeit von Verschiedenen im Geist Gottes.

DIES macht bestürzt. DIES macht fassungslos. Nicht Sturm und Feuer, Brausen und Getöse. Die Kirche ist an ihrem Beginn offen für den Geist Gottes – und das macht sie offen für Fremde, veränderungsbereit und kulturell mehrsprachig.

In einer zerstrittenen Welt, die sich mit Veränderung und Vielfalt so schwer tut, verbindet sich die Erinnerung an das Pfingstereignis daher mit einer großen Aufgabe für die Kirche. Sie soll – in ihrem Inneren wie in den Gesellschaften – in der Nachfolge Christi die vielfältigen und verschiedenen Menschen, Völker und deren Kulturen miteinander und mit Gott verbinden und versöhnen. Und sie kann das, weil und wenn sie sich vom Geist Gottes begleiten und inspirieren lässt.