Bibelessay zu 1 Timotheus 1,12-17

„Im Nachhinein ist man immer g‘scheiter“, heißt es. Wer hat nicht schon selbst diese Erkenntnis gehabt! Da hat man eine Situation falsch eingeschätzt, einem Menschen Unrecht getan, eine unrichtige Entscheidung getroffen.

Ich gebe zu, dass ich die Klimaaktivistin Greta Thunberg zunächst für viel zu wenig charismatisch gehalten habe, um andere Menschen zu begeistern. Ich habe meine Einschätzung revidieren müssen…

Johannes Wittich
ist Oberkirchenrat der evangelisch-reformierten Kirche in Österreich

Distanzierung von der Vergangenheit

Ein wenig klingt dieses „Im-Nachhinein-g‘scheiter-Sein“ auch in den Zeilen aus dem ersten Timotheusbrief durch. Als Verblendeter, als ein Mensch ohne Durchblick, beschreibt sich da der Apostel Paulus, Verkünder des neuen Glaubens an Jesus Christus der ersten Stunde. Er war als gläubiger Jude zunächst Gegner der Christinnen und Christen gewesen. Erst nach dem sogenannten Damaskus-Ereignis, einer höchst dramatischen Begegnung mit dem auferstandenen Christus, hat er seine Sichtweise geändert. Als sein ganzes Leben mit einem Mal auf den Kopf gestellt wird, sein Wertesystem zusammengebrochen ist und erst Stück für Stück wieder aufgebaut werden musste.

Diese Begegnung mit einer neuen Wahrheit trifft ihn so sehr, dass er zunächst erblindet - so berichtet es die Bibel. Heute würde man sagen: er hat psychosomatisch darauf reagiert, auf eine Wahrheit, die da lautet: was immer du bisher getan hast, was immer dich bisher angetrieben hat, was immer dein Bild von der Welt gewesen ist, es war falsch. Von diesem Augenblick an arbeitet sich Paulus in die neue Wahrheit hinein, erkennt Schritt für Schritt, Detail für Detail, wo sein Einsatz irregeleitet, sein Denken fanatisch gewesen ist. Er erkennt. Im Nachhinein, wie gesagt.

Lebenskunst
Sonntag, 7.7.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Die Beschreibung dieser drastischen Distanzierung von der eigenen Vergangenheit, also der Zugehörigkeit zum Judentum, kann als Polemik gegen eben diesen Glauben aufgefasst werden. Oder als Worte, die zum Ausdruck bringen, dass hier jemand für sich einen anderen Weg als richtig erkannt hat – und ausgehend von dieser begeisternden Neuentdeckung mit dem alten Glauben brechen muss.

Im Rückblick ein Geschenk

Es ist allgemeine Erkenntnis der Bibelwissenschaft, dass es nicht Paulus selbst war, der den 1. Timotheusbrief verfasst hat. Vielmehr hat ein Anhänger, ein Schüler, ein in der Gedankenwelt des Paulus beheimateter Mensch, diesen Brief geschrieben. Die Worte, die er dem Paulus in den Mund legt, sind die eines „bekehrten Sünders“. Paulus tritt nun auf als ehemaliger „Gotteslästerer“ und „Frevler gegen Gott“, - so heißt es im Text, - als Ungläubiger, als Feind Gottes. Diese Einschätzung wird dem „echten“ Paulus ganz sicher nicht gerecht, war er doch, wie gesagt, zuvor auch ein gläubiger Mensch, tief verankert in der Jahrhunderte alten Vorstellung des Judentums von Gott.

Der Paulus des Timotheusbriefs ist dagegen einer, der einfach im Nachhinein gescheiter geworden ist, über das, was ihn angetrieben hat, und wie er sich - irrtümlich - selbst gesehen hat. Ein Muster, das wir wohl alle kennen, ein grundmenschliches Muster.

Ich möchte aber den Blick nicht bei dem belassen, was hier als Irrtum des Paulus beschrieben wird. Ich möchte auch auf das schauen, was Paulus für sich gewonnen hat: eine neue Freiheit, die Wiederentdeckung eines großzügigen und liebenden Gottes, der auch schon im Ersten oder Alten Testament in Erscheinung tritt. Diese „Barmherzigkeit Gottes“ kann er nun, auch und besonders, im Blick zurück auf sein Leben erkennen. Für mich ist es ein wunderbares Geschenk, so zurückblicken zu können. Um dann zu sagen: Gott hat es gut gemacht für mich.