Bibelessay zu Lukas 10,25-37

Kaum ein Text des Neuen Testaments ist wohlbekannter als der des Barmherzigen Samariters. Wie die meisten kenne ich ihn seit frühen Kindertagen, und ich kann mich noch an zahlreiche Besprechungen in der Schule erinnern.

Immer haben wir uns echauffiert über den Priester und den Leviten, die vorbeigegangen sind an dem Bedürftigen. Und den Samaritaner gelobt. Er, der Fremde, der in der biblischen Welt immer auch der ist, von dem man eigentlich nichts Gutes erwartet, - er tut das, was klarerweise eigentlicher jeder tun sollte. Eine beispielhafte Erzählung also, ebenso wohltuend wie unspektakulär – denn, mal ehrlich, dass es sich gehört zu helfen, wenn jemand am Boden liegt – wer würde das schon verneinen?

Mirja Kutzer
ist katholische Theologin, Professorin für Systematische Theologie an der Universität Kassel

Wer ist der Nächste?

Es ist ein kleiner Satz, der diese wohlbekannte Geschichte für mich dann doch zu einer spektakulären macht. Die neue Einheitsübersetzung übersetzt ihn sehr gut: „Wer von diesen dreien, meinst du, ist dem zum Nächsten geworden, der unter die Räuber gefallen ist?“ Wer ist zum Nächsten geworden? Hört man dieses geworden genau, dann wird darin eine Dynamik dieser Geschichte deutlich. Der Satz verweist zunächst auf den Anfang, die Frage des Gesetzeslehrers, die die Erzählung motiviert. Wer ist mein Nächster? Sie ist gestellt als Frage nach dem Objekt des Handelns. An wem muss ich denn Gutes tun, wen muss ich denn lieben wie mich selbst? Welche Eigenschaften muss der- oder diejenige denn mitbringen? So wurde dies auch über die Jahrhunderte hinweg diskutiert. Sind es die, die mir irgendwie nahe sind? Verwandte oder Nachbarn? Freundinnen und Freunde? Die Guten? Wenigstens die, die das gleiche denken oder glauben wie man selbst?

Allein die Beantwortung dieser Frage nach den Eigenschaften des Nächsten ist freilich eine Versuchung, schließt sie doch immer bestimmte Menschen ein und andere aus. Noch immer habe ich Wahlkampfplakate aus dem Wahlkampf für die Nationalratswahl 2013 im Auge, auf denen diese Frage klar beantwortet wurde. Der Nächste, so stand dort in Anspielung auf das Neue Testament zu lesen, das sind unsere Österreicher. Natürlich haben diese Plakate suggeriert, dass sich die Österreicherinnen und Österreicher alle zu einem „unsere“, zu einem „wir“ zusammenfassen lassen. Denn das „wir“, das sind ja alles dieselben, netten Leute, die aus derselben Gegend kommen, die dieselbe Sprache sprechen, denselben kulturellen Hintergrund teilen. Man ist Nächster, indem man sich ähnlich ist. Und eigentlich muss man kaum sagen, wie viel an Verschiedenheit, an Fremdheit, an unterschiedlichen Lebenssituationen diese Plakate unterschlagen, wieviel an Ausgrenzung sie ausgeblendet haben.

Malheur

Dabei ist es schon allein die Art und Weise der Antwort, die an der Geschichte des Samaritaners vorbeigeht. Denn derjenige, dem dort geholfen oder eben nicht geholfen wird, bringt keinerlei Eigenschaften mit. Seine Herkunft ist unbekannt. Ebenso sein Name. Zudem ist er halbtot. Er hat Malheur erlitten – so hat die französische Philosophin und Mystikerin Simone Weil einen Zustand genannt, in dem es nicht einmal mehr möglich ist, ein Bedürfnis zu äußern. Von all dem, was den Menschen ausmacht – Bewusstsein, Sprache, Kommunikation – ist nichts mehr übrig. Er kann nicht einmal mehr etwas wollen.

Lebenskunst
Sonntag, 14.7.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Damit geht es in der Erzählung schlicht nicht um die Ähnlichkeit des anderen zum eigenen Selbst. Denn der, der unter die Räuber gefallen ist, ist überhaupt nicht mehr ähnlich – so anders, dass er eher einem Kadaver, denn einem Menschen gleicht. So ist die Frage „Wer ist dein Nächster“ keine Frage nach dem Objekt, also nach dem, an dem etwas getan werden soll. Es geht nicht um die Qualität des Nächsten, die die klare Abgrenzung erlauben würde. Vielmehr rückt die Frage das Subjekt des Handelns in den Focus. Wem bin ich bereit, zuzusprechen, dass er mir nahe ist? Wo erkenne ich in dem anderen, dem Fremden, dem Halbtoten den Menschen in seiner Verletzlichkeit und Bedürftigkeit, in der er mir eben so ähnlich ist? Damit wären wir beim Schlusssatz der Erzählung: Der Nächste, das ist keiner einfach oder ist auch nicht. Er wird dazu, indem ich ihm zum Nächsten werde.