Der suchende Matrose

Zum 200. Geburtstag von Herman Melville: „Bis ich fünfundzwanzig war“, schreibt Herman Melville 1851, „hatte ich mich überhaupt nicht entwickelt. Ich datiere mein Leben von meinem fünfundzwanzigsten Jahr an.“

Gedanken für den Tag 29.7.2019 zum Nachhören (bis 28.7.2020):

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Diese Aussage ist verblüffend. Denn der am 1. August 1819 in New York geborene Schriftsteller hat sehr jung seinen Vater verloren, bereits mit 19 Jahren auf einem Handelsschiff angeheuert und dann immerhin insgesamt vier Jahre auf See und in Polynesien verbracht.

Den calvinistisch erzogenen jungen Mann haben der scheinbare sorglose und freizügige Umgang mit Sexualität und die paradiesischen Landschaften im Pazifik wohl ziemlich beeindruckt und in seinem ersten Buch „Typee“ entsprechende Spuren hinterlassen. Biograf Andrew Delbanco beschrieb das so: Melville „träumte sich die Welt von Taipi als Gegenteil seiner eigenen zurecht; am Ende könnte man das ganze Buch als eine einzige rhetorische Frage sehen: Was würde es bedeuten, im Paradies zu leben?“

Brigitte Schwens-Harrant
ist Literaturkritikerin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung „Die Furche“

Das Primitive und das Zivilisierte

Aber was Herman Melville von diesen Jahren offensichtlich auch mitbrachte, waren ganz grundlegende Wahrnehmungen. Aufgewachsen in einer Zeit, in der die Vorstellung „hier die gelobte Zivilisation, dort die primitiven Wilden“ allgemein anerkannt war, wurde ihm diese Vorstellung nun kräftig durchgeschüttelt. Er erfuhr, dass Herkunft, Zivilisation oder Bildung auf so einem Schiff nicht sehr viel bedeuteten. Entscheidend war, ob man konnte, was gebraucht wurde. Und er brachte, fasziniert von den fremden Gebräuchen, eine Skepsis mit in Bezug auf die angeblich lineare Entwicklung vom Primitiven zum Zivilisierten.

Sieht nicht für jeden das jeweils Fremde primitiv aus und umgekehrt? Diese Frage stellte Herman Melville sich und seinen Lesern. In seinem Roman „Weißjacke oder Die Welt auf einem Kriegsschiff“ wird er 1850 über einen Polynesier Folgendes schreiben: „Er verwarf unseren Glauben, wir den seinen. Wir hielten ihn für einen Dummkopf; in seinen Augen waren wir Narren. Und wäre es umgekehrt, wären wir Polynesier und er Amerikaner gewesen - unsere Meinung voneinander wäre dennoch dieselbe geblieben. Ein Beweis, daß keiner von beiden unrecht, sondern beide recht hatten.“

Buchhinweise:

  • Andrew Delbanco, „Melville. Biographie“, Verlag Hanser
  • Arno Heller, „Herman Melville“, Verlag Lambert Schneider

Musik:

Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Carl Davis: „Pirates of the Caribbean - The Curse of the black pearl“ / Thema a.d.gln.Film / „Fluch der Karibik“ von Klaus Badelt, arrangiert von Ted Ricketts
Label: Naxos 8572111