Bibelessay zu Johannes 6,30-35

„Herr, gib uns allezeit solches Brot.“ Die Aufforderung der jüdischen Gesprächspartner Jesu, die im Johannesevangelium für die gesamte Welt stehen, hat ihren guten, handfesten Grund.

Für gläubige Jüdinnen und Juden liegt er in der alten Geschichte von der wunderbaren Speisung des Volkes Israel durch Mose: Da konnte man endlich satt werden. Für uns heute ist es die Sehnsucht nach einer wirksamen Verteilungsgerechtigkeit: Hunger und Not sollen endlich verschwinden!

Was das Johannesevangelium, geschrieben von einem unbekannten Verfasser rund um das Jahr 100, dazu zu sagen hat, mutet damals wie heute an wie eine Zumutung. Ganz ungerührt von aller Not und allem Elend der Welt, so als hätte es alles Klagen und alle sehnsüchtige Bitten nicht gehört, stellt es etwas ganz anderes fest:

Jesus, der Wanderprediger aus Nazareth, ist etwas kaum vorstellbar Besonderes. Er ist „von oben“ in die Welt gekommen, gesandt von Gott, seinem Vater, er ist der lang ersehnte Messias, der Christus, der Sohn Gottes. Ja, Jesus steht für Gott in all seiner Majestät und Herrlichkeit inmitten der Welt, und zwar ganz abgesehen davon, wie unzulänglich, bedrohlich und böse diese erscheint.

Christoph Weist
ist evangelischer Theologe und emeritierter Pfarrer

Du bekommst mich!

Das ist es, was das Johannesevangelium mitteilen möchte. Das ist es, worin es die Rettung der Welt erblickt. „Ich bin das Brot des Lebens“ sagt Jesus, ich selbst! Alles andere ist ein Missverständnis. Was immer Menschen brauchen, die Lösung aller sozialen Probleme, die Klärung aller zwischenmenschlichen Spannungen, der Sinn des menschlichen Lebens und aller noch so wohlgemeinter Anstrengungen, ihn zu finden, - das alles findet sich allein in der Tatsache, dass ich und der Vater eines sind.“ Mit anderen Worten: Wer etwas von Jesus möchte, erhält die Antwort: Du bekommst mich!

Soll das eine Absage sein an alle Diakonie oder Caritas, an alles praktische Eintreten für andere? Soll es eine Kritik sein an allem sozialen und gesellschaftlichen Engagement?

Und tatsächlich kommt man bei genauem Lesen des Johannesevangeliums um eines nicht herum: Zwar kennt das Evangelium ein striktes Liebesgebot Jesu: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe.“ (Joh 13,34). Doch diese Liebe wird allein in der christlichen Gemeinde wirksam.

„Herr, gib uns allezeit solches Brot.“

Im Kreis von Geschwistern, die angesichts des Unverständnisses und der vielfältigen Bedrohungen der Welt füreinander einstehen. Und die sich damit in der Welt bewähren, und zwar in kritischer Distanz. Damit ist nicht Weltabgewandtheit gemeint. Aber das Brot, das die Welt möglicherweise gibt, kann vergiftet sein. – vor allem aus der Sicht einer verfolgten Christengemeinde des ersten Jahrhunderts. Es kann falsche Sehnsüchte und Interessen erwecken, von falschen Herren abhängig machen, in die Irre führen.

Lebenskunst
Sonntag, 4.8.2019, 7.05 Uhr. Ö1

Doch die Welt soll – aus der Sicht des Johannesevangeliums - eine neue Perspektive gewinnen, die Perspektive jener einzigartigen Liebe, die der einzigartige, von Gott geschickte Mann Jesus von Nazareth eröffnet hat. Allein in ihm haben sich alle Diakonie und alle Caritas zu verankern. Allein in ihm wird die enge Geschwisterliebe zur weiten Nächstenliebe.

Das ist die Zumutung des Johannesevangeliums. Wer sich ihr aussetzt, bittet mit gutem Grund: „Herr, gib uns allezeit solches Brot.“ Er oder sie darf darauf vertrauen, dass diese Bitte erfüllt wird.