Bibelessay zu Lukas 1,39-56

Das sogenannte Magnifikat, das Dank- und Loblied aus dem Munde der Maria von Nazareth, gehört zu den bedeutendsten Gebeten des Christentums. Lukas, der Verfasser des Evangeliums, hat beim Schreiben des Magnifikat ohne weitere Quellenangabe einfach aus dem reichen Schatz des Ersten bzw. Alten Testaments geschöpft. In der Wissenschaft würde der Text glatt als Plagiat gelten.

Aber Lukas hatte vor fast 2000 Jahren keinen Grund, anzugeben, woher er die Bausteine für seinen Text nimmt, denn die Gemeinde, für die er sein Evangelium schreibt, war mit allen seinen Formulierungen gut vertraut. Es sind Worte voll Hoffnung und Zuversicht aus der Hebräischen Bibel des jüdischen Volkes, die als sogenanntes Altes Testament Teil der christlichen Bibel ist. Das christliche Magnifikat, täglich in den Kirchen gebetet und vielfach vertont, ist also vom ersten bis zum letzten Wort ein jüdischer Text, den Lukas Maria in den Mund legt. Er verdichtet im Lob- und Danklied Marias das Vertrauen des Volkes Israels an seinen Gott, zugleich macht er die Bedeutung Marias und ihres Kindes deutlich.

Martin Jäggle
ist Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit

Deborah - einzige Frau als Richterin

Ich wähle aus den zahlreichen Fäden, mit denen Lukas das wunderbare Textil Magnifikat gewoben hat, zwei mir besonders kostbare aus. Ein Faden ist dabei mehr, als beim Textil sichtbar wird. Die zwei von mir gewählten Fäden haben Namen und heißen: Debora und Hanna, zwei bedeutende Frauen des Volkes Israel, von denen jeweils auch ein Lob- und Danklied in der Bibel enthalten ist.

Die ersten Worte des Magnifikat „Meine Seele preist die Größe des Herrn“ wecken die Erinnerung an Debora. Sie war die einzige Frau als Richterin in der Zeit, als das Volk Israel noch ohne Staat war und bevor Saul als erster König berufen wurde. Mit Debora nahm eine starke Frau damals eine so wichtige Stellung in der männerdominierten Gesellschaft ein. Sie hat in Notfällen beraten, Streit geschlichtet und auch Recht gesprochen. Außerdem ist Debora die einzige Frau, die in der Bibel als beides: Richterin und Prophetin bezeichnet wird. Im Debora-Lied (Ri 5,1-31), einem der ältesten Stücke der Hebräischen Bibel, fordert Debora nach dem Sieg über die Unterdrücker auf „Preist den Herrn“.

Hanna, Mutter von Samuel

Als für mich wichtigste kommt im Zusammenhang mit dem Magnifikat dann Hanna ins Spiel. Ihr Name könnte bedeuten „Gott ist Gnade.“ Sie wurde gedemütigt, weil sie keine Kinder hatte. Von ihr wird erzählt, dass sie nach einem Gelübde, ein Kind ganz dem Herrn zu überlassen, Mutter von Samuel wurde, des letzten Richters und Propheten. Ihr Lob- und Danklied (1 Sam 2,1-10) beginnt mit „Mein Herz ist voll Freude über den Herrn“ (1 Sam 2,1) und dient Lukas fast wie eine Vorlage. So sind auch die Adressatinnen und Adressaten seines Magnifikat die Gebeugten und Kleingehaltenen. Das bestehende Sozialsystem wird auf den Kopf gestellt: „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.“ (Lk 1,52-53)

Lebenskunst
Donnerstag, 15.8.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Die im Magnifikat verwobenen Menschen und Erfahrungen in Erinnerung rufen, lässt die Geschichte konkret werden, die hinter dem Magnifikat steht, die lange und vielfältige Geschichte des Volkes Israel mit seinem Gott. Zugleich kann dies heute zum Versuch anregen, sich mit der eigenen Lebensgeschichte im Magnifikat wiederzufinden.