Bibelessay zu Lukas 14,25-33

Die katholische Kirche hat eine ausgeprägte Ehe- und Familienmoral hervorgebracht. Stets wird betont, wie wichtig der Zusammenhalt der Familien ist. Zuletzt hat das Papst Franziskus mit seinem Schreiben Amoris Leatitia, „Die Freude der Liebe“, gezeigt, das er den beiden Familiensynoden von 2014 und 2015 folgen ließ. Das Maß dafür ist ihm die Heilige Familie, also die Familie Jesu.

Und dann wie ein scharfer Kontrast dazu der Text dieses Evangeliums, das in den katholischen Gemeinden gelesen wird. Es heißt da im Mund Jesu unter anderem: „Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben geringachtet, dann kann er nicht mein Jünger sein.“ Die Einheitsübersetzung glättet die Härte des griechischen Textes: Statt geringachten muss es heißen: hassen. Also: „Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben hasst, dann kann er nicht mein Jünger sein.“

Wolfgang Treitler
ist katholischer Theologe und Judaist

Jesus oder die Familie

Das ist unglaublich. Die Nachfolge Jeus verlangt den Hass auf die eigene Familie, den radikalen Bruch. Zumindest liest man das so bei Lukas, und das nicht nur an dieser Stelle. Daher sehe ich keinen Grund, das abzuschwächen oder mit irgendwelchen künstlichen Interpretationsübungen zu umgehen. Wer Jesus nachfolgt, zerbricht seine familiäre Zugehörigkeit. Jesus oder die Familie, Jesus oder das eigene Leben – das ist die kompromisslose Alternative des Lukas. Das besagt ja auch das von ihm gebrauchte Wort hassen, im Griechischen misein. Hass will die Vernichtung jeder Bedeutung des anderen, er erfüllt sich in der Ausmerzung der Alternative.

In seinem Buch „Ein Rabbi spricht mit Jesus“ hat der jüdische Gelehrte Jacob Neusner vor mehr als 25 Jahren sich gefragt, ob er, wäre er Zeitgenosse Jesu gewesen, mit ihm mitgegangen und sein Jünger geworden wäre. Als er auf ähnliche Stellen wie diese stieß, zog er seinen Schluss: Er hätte Jesus die Gefolgschaft verweigert. Denn wer die Familie derart zerstört, zerstört den Kern Israels. In der Familie lebt der Glaube, in ihr wird er weitergegeben – alles andere baut darauf auf. Deshalb ist die Familie heilig und unantastbar.

Sie gehörten nirgendwo mehr hin

Und was mache ich damit? Ich sehe, wie ein Teil der heutigen Misere der Familie auch mit ihrer Abwertung durchs Christentum zu tun hat. Sprüche wie dieser, den Lukas überliefert, haben Geschichte gemacht. Die Nachfolge Christi in zölibatären Formen, die das Leben in einer Familie ausschließen, wurde zur Nachfolgeform schlechthin und die Ehe als eine Art Zugeständnis abgewertet, das man den vielen machen muss, die dem Triebleben nicht entkommen können oder wollen. Den wahren Weg zum Heil geht man ohne Familie.

Lebenskunst
Sonntag, 8.9.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Texte machen also Geschichte. Und so ist auch der Text dieses Sonntagsevangeliums Teil einer Geschichte, die schon vor ihm ablief und Sprüche überliefert, von denen rein bibelwissenschaftlich niemand mehr sagen kann, ob und wie sie auf Jesus zurückbezogen werden können. In solchen Geschichten zeigt sich kaum das ursprüngliche Profil von Personen, auch nicht das von Jesus. In ihnen trifft man vielmehr auf Erfahrungen und Fragen der jeweiligen Zeit. Die Erfahrungen der frühen Christen um Lukas waren durchaus bedrückend: Wer zu Jesus stand, verlor meist seine ursprünglichen Beziehungen. Man gehörte nirgendwo mehr wirklich hin – außer zu dieser neuen und unsicheren Gruppe von Jesusanhängern.

Die Unantastbarkeit der Familie

Doch die Zeit, auf die sich Lukas in diesem Evangeliumsabschnitt bezieht, ist nicht mehr meine. Seine Fragen sind andere als meine. Wenn ich ihn trotzdem lese, dann deshalb: Ich möchte ein wenig begreifen, was ihn veranlasst haben mag, diese unheimlichen Worte vom Hass gegen die Familie als Worte Jesu niederzuschreiben; ich möchte das deshalb ein wenig begreifen, um die Aufmerksamkeit zu schärfen für Situationen, in denen es nur ein Ja oder ein Nein gibt. Eine Entscheidung für das eine und gegen das andere. Also eine echte Alternative.

Die Alternative zwischen Familienzugehörigkeit und Jesusnachfolge gehört für mich nicht zu einer solchen Entscheidung. Die Amoris Laetitia, die Freude der Liebe, bis hinein in ihre erotischen Formen und die Schaffung von Nachwuchs, kann für mich heute der Jesusnachfolge nicht mehr widersprechen. Für mich läuft es umgekehrt zum Text des Lukasevangeliums: Die Feier der Liebe ist eine der schönsten Ausdrucksformen der Jesusnachfolge in einer Zeit, in der Aufhetzung gegen andere und Vereinsamung zum bitteren Erbe vieler geworden sind.

Und so möchte ich mit einem Teil des Gebets aus dem Schreiben Amoris Laetitia von Papst Franziskus schließen, das er an die Heilige Familie richtet: „Lass allen bewusst werden, wie heilig und unantastbar die Familie ist und welche Schönheit sie besitzt im Plan Gottes.“