Bibelessay zu Lukas 15,1-32

Als Wissenschaftler habe ich es die meiste Zeit mit wissenschaftlich geschriebenen Texten zu tun, mit Thesen, Methoden, mit klug durchdachten und mit viel Schweiß formulierten Arbeiten von Kolleginnen und Kollegen und Studierenden.

Wissenschaftliche Literatur ist leider immer noch oft trocken und kompliziert geschrieben und möchte gerade dadurch den Eindruck der Ernsthaftigkeit und Wichtigkeit erwecken. Umso erfrischender sind jene Zugänge zur Welt, zum Leben, jene wahren Weisheiten, die in der Weltliteratur ganz leicht daherkommen, in Form von Sprüchen, Metaphern, von kurzen und einprägsamen Sätzen. Vor allem aber faszinieren mich die Gleichnisse. Jesus war ein Meister der Gleichnisse, er formulierte sie so zeitlos und auf den Punkt, dass jedes von ihnen ein wahrer Geniestreich ist.

Gerhard Langer
lehrt am Institut für Judaistik der Universität Wien

Freude über das verloren geglaubte Kind

Darunter auch diese aus dem Lukasevangelium. Auf wunderbare Weise wird hier ein Umstand beschrieben, den wir alle kennen. Wir freuen uns über das Wiederfinden von Verlorenem mehr als über das, was wir – vermeintlich -selbstverständlich haben. Jeder Verlust ist schmerzhaft, aber der Verlust des eigenen Kindes ist kaum zu ertragen. Umso größer ist die Freude, wenn das verloren geglaubte Kind heimkehrt.

Mehrfach verwendet der Autor des Evangeliums hier den Begriff des Todes, auch wenn der Sohn, um den es geht, nicht physisch gestorben ist. Auf der religiösen Ebene gelesen sagt der Text nicht weniger, als dass jene Menschen, die sich vom Glauben, vom richtigen ethischen Leben, von der Bindung an Gott, abwenden, betrachtet werden, als wären sie bereits gestorben, aber jederzeit umkehren können und mit Freuden wieder aufgenommen und in die Gemeinschaft der Glaubenden integriert werden.

Umkehren vom falschen Weg

Es geht also um Umkehr in einem sehr wörtlichen Sinn, um ein Umdrehen vom falschen Weg, eine Rückkehr zum Ursprung und zu der Quelle der Liebe, wie sie hier im Bild des Vaters ausgedrückt ist. Auf einer ganz profanen Ebene gelesen können wir die Freude nachvollziehen, die Eltern empfinden, wenn ihr ausgerissenes Kind wieder nach Hause kommt. Vergessen ist der Ärger über den renitenten Knaben, die aufmüpfige Göre, plötzlich ist da nur mehr die pure Freude.

Lebenskunst
Sonntag, 15.9.2019, 7.05, Ö1

Und doch hat der Text eben auch noch zwei weitere Aspekte. Er thematisiert auch die Bereitschaft des jungen Mannes, einzusehen, dass er falsch gehandelt hat, dass er sich auf einem Irrweg befunden hat. Er zeugt von Lernbereitschaft und einem Reifungsprozess durch negative Erfahrung. Und er leugnet auch nicht den Ärger bei den Geschwistern, die sich immer richtig verhalten haben. Warum werden wir vernachlässigt? Warum sind wir geradezu selbstverständlich? Insofern ist die Welt, die der Text beschreibt, auch eine Spur ungerecht.

Was ich daraus lerne? Bei aller Freude über das Wiederfinden des Verlorenen sollte ich auch ein Auge auf jene haben, die sich meine Liebe nicht durch Trotz und Widerstand erwerben, sondern durch eine geradezu ruhige Treue, eine beharrliche und konstante Liebenswürdigkeit, und vielleicht nehme ich weniger für selbstverständlich und sehe genauer hin.