Bibelessay zu Jesaja 58,7-12

Der Prophet Jesaja richtet sich an Menschen, die etwas Großes erlebt haben: Sie konnten nach dem Ende der babylonischen Gefangenschaft im Jahr 539 vor Christus zurückkehren in ihre Heimat. Sie konnten Jerusalem, ihre heilige Stadt, wiederaufbauen.

Doch war die Situation in der neuen alten Heimat nicht für alle rosig. Hunger und Obdachlosigkeit waren wohl beinharte Realität. Sonst würde Jesaja nicht dazu auffordern, mit den Hungrigen das Brot und mit den Obdachlosen das Haus zu teilen.

Maria Katharina Moser
ist Direktorin der evangelischen Hilfsorganisation Diakonie

Göttlicher Lohn

Gott hat, so erzählt die Bibel, sein Volk aus der Gefangenschaft befreit – und nun steht das Volk vor der Herausforderung, diese Freiheit zu bewahren und etwas daraus zu machen. Die rechte religiöse Praxis reicht da nicht – in den Versen vor unserem Text hatte der Prophet die gängige Praxis des Fastens kritisiert: „Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit oder seinen Kopf hängen lässt?“

In Abgrenzung zu dieser Praxis fordert der Prophet: nicht schlecht über andere reden, niemanden unterdrücken, sich vom Elend anderer berühren lassen und mit ihnen teilen. „Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten.“ Sollen wir das so verstehen?: Wenn wir uns berühren lassen vom Elend anderer und teilen, dann dürfen wir dafür Lohn erwarten: Unser Licht wird leuchten, und der Herr wird uns sättigen und stärken, und unsere Heilung wird schnell voranschreiten? Wenn wir uns aber NICHT berühren lassen vom Elend anderer und NICHT teilen, dann gibt es keinen göttlichen Lohn?

Teilen aus Dankbarkeit

Nein, das wäre zu einfach gedacht. Zu banal. Zu ökonomisch. Gott ist kein Kuhhandel-Gott. Gott will keinen Deal mit uns machen, damit wir teilen. Lass den Bedürftigen dein Herz finden, sagt Jesaja. Teilen ist Herzenssache. Teilen kommt aus der Dankbarkeit heraus. Das sehen wir am Festtag Erntedank, der heute in vielen evangelischen Gemeinden gefeiert wird, ganz deutlich. Teilen aus Dankbarkeit ist keine Verpflichtung, vielmehr ein inneres Bedürfnis, fühlt sich nicht schwer an, sondern leicht.

Lebenskunst
Sonntag, 6.10.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Wenn wir zu Erntedank auf Gottes gute Gaben schauen, sehen wir: Gott schenkt uns Fülle! Es ist genug für alle da! Ganz real, das ist jetzt kein schönes theologisches Blabla. Es gibt genug Lebensmittel für alle auf dieser Welt. Wer hungert, hat nichts zu essen, weil er oder sie keinen Zugang zu Lebensmitteln hat. Wir produzieren genug, die Verteilung ist das Problem. Teilen, gerechte Verteilung ist heilsam – und zwar nicht nur für die, denen Unrecht widerfährt, sondern für alle. Für unsere gesamte Gesellschaft. Das halten 14 christliche Kirchen in Österreich fest in ihrem Ökumenischen Sozialwort, im Kapitel über soziale Sicherheit – diesem Kapitel sind die eben gehörten Worte des Propheten Jesaja vorangestellt.

Licht in der Finsternis

„Soziale Sicherheit macht Gesellschaften nicht arm, sondern ist ein wesentliches Element des sozialen Zusammenlebens. Soziale Investitionen wirken sich auch ökonomisch positiv aus. Ein gut ausgebautes System von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen ermöglicht ein hohes Qualifikationsniveau. Ein allen zugängliches Gesundheitssystem, eine gut funktionierende Infrastruktur bieten die Grundlagen einer erfolgreichen Wirtschaft. Die solidarische Absicherung von Risiken wie Arbeitslosigkeit und Alter sind Reichtums- und Wohlstandsindikatoren einer Gesellschaft.

Dieser Wohlstand, der keine Gruppe ausschließt, sondern darauf abzielt, möglichst viele einzuschließen, ist ein positives Element des Wirtschaftsstandortes Österreich und eine Grundlage der Lebensqualität aller, die zu erhalten eine wesentliche Aufgabe ist.“ Soweit das Ökumenische Sozialwort aus dem Jahr 2003. Es ist immer noch aktuell – und für mich so etwas wie eine heutige Übersetzung, eine Konkretisierung des 2500 Jahre alten prophetischen Wortes: Wenn du den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen.