Bibelessay zu Lukas 17,11-19

Was macht einen Menschen zum Menschen? Auf diese Frage habe ich schon viele verschiedene Antworten gehört: Vernunft und Selbstbewusstsein; die Fähigkeit zur Sprache und zur Liebe; die Möglichkeit, über sich selbst nachzudenken; die kulturelle Praxis, die eigenen Toten zu begraben.

Ich lege hier eine spirituelle Perspektive dazu: Für mich ist der Mensch Mensch, weil er hoffen kann, weil er bereuen und weil er danken kann. Auf Heilung hoffen und dankbar sein, wenn man geheilt wird – das sind auch heute noch sehr nachvollziehbare Reaktionen.

Regina Polak
ist Theologin und Religionssoziologin

Hoffnung, Reue und Dankbarkeit

Aber wieso Reue? Nun, zur Zeit Jesu hat man Krankheit als Folge von Fehlverhalten – von Sünde - gesehen. Für die Geheilten, von denen die Bibelstelle erzählt, war also klar: Wenn sie geheilt werden wollen, müssen Sie um Erbarmen bitten.

Die christliche Theologie betrachtet Hoffnung, Reue und Dankbarkeit aber nicht nur als ethische Einstellungen, sondern auch als Geschenk und Gabe: Man kann sich für sie öffnen, man kann sie als Lebenshaltungen einüben, aber man kann sie nicht mit dem Willen allein erzwingen. Sie werden geschenkt. Wer sie erfährt, kann sich im Innersten erfüllt fühlen.

Aus der Sicht des christlichen Glaubens wird die Erfahrung von Hoffnung, Reue und Dankbarkeit möglich, weil und wenn sich ein Mensch für Gott öffnet und in Resonanz mit ihm tritt. Dabei ist es zunächst sekundär, ob er diese Erfahrung ausdrücklich religiös begründet oder nicht. Entscheidend ist die existentielle Öffnung für die Wirklichkeit Gottes und die Entscheidung für das Leben. Der christlichen Theologie zufolge kann sich in diesen Erfahrungen Gott offenbaren.

Und wie?

In der Hoffnung kann sich Gott zeigen weil es mitten in Ohnmacht und Leid gelingt, die Orientierung am Guten nicht zu verlieren und Vertrauen zu schöpfen, dass das, was einem widerfährt, irgendwann einen Sinn gehabt haben wird.

Lebenskunst
Sonntag, 13.10.2019, 7.05 Uhr, Ö1

In der Reue kann sich Gott zeigen,weil man die eigene Sünde, die eigene Schuld nicht mehr abwehren muss, sondern ohne Angst wahrnehmen kann. Und weil man darauf vertrauen kann, dass man nicht auf ewig verurteilt und aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen sein wird, sondern Vergebung und so einen Neustart finden wird.

In der Dankbarkeit kann sich Gott zeigen, weil man erkennt, dass man das Wichtigste und Wertvollste im Leben nicht selbst herstellen kann und muss, sondern dass es einem geschenkt wird.

Aus der Gesellschaft verstoßen

Die Heilung der Aussätzigen, von der der Verfasser des Lukasevangeliums berichtet, macht den Zusammenhang dieser Gaben deutlich. Die zehn Aussätzigen, die Jesus aus dem Dorf entgegenkommen, sind nach damaligem Recht aus der Gesellschaft Verstoßene. Indem sie Jesus entgegen gehen, zeigen sie, dass sie voller Hoffnung sind, dass ihr Leben nicht zu Ende ist. Sie bitten um Erbarmen, sie sind voller Reue. Hoffnung und Reue genügen, dass die Kranken bereits beim Gehen heil werden. Es sind nicht die Priester, die heilen – der biblischen Überlieferung zufolge sind es die Hoffnung und die Bitte um Erbarmen, die die Ausgestoßenen wieder in die Gemeinschaft holen.

Als dankbar wird sich dafür freilich nur einer erweisen. Doch geheilt werden alle bleiben. Jesus macht ihnen keine Vorwürfe, dass sie Gott nicht danken, er fragt nur nach. Aber dieser eine ist ein Samariter, einer der nicht zum Volk Israel gehört. Der Glaube, der ihn gerettet hat, geht also über kulturelle und religiöse Grenzen hinaus: Er zeigt sich in der Bereitschaft zu Hoffnung, Reue und Dankbarkeit.

Beschenkt werden

Die biblische Erzählung lässt mich also erkennen, dass Menschlichkeit nicht an die Zugehörigkeit zum Volk Gottes gebunden ist, sondern sich in der Bereitschaft zeigt, auf Heilung und Rettung zu hoffen, sich für die göttliche Wirklichkeit zu öffnen, ihr in Reue zu begegnen und zu danken.

Solche Haltungen einzuüben ist schwierig in einer Gesellschaft, die Hoffnung mitunter für naiv hält, Schuldeingeständnisse als Zeichen von Schwäche abwehrt, und lieber auf eigene Leistung vertraut. Aber diese Haltungen sind alles andere als passiv: Sie einzuüben setzt jede Menge Mut voraus und braucht regelmäßige Praxis. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich das Einüben dieser Praxis lohnt. Denn dabei kann sich mein Glaube vertiefen, meine eigene Seele wird gesund und ich kann erfahren, wie schön es ist, von anderen und Gott beschenkt zu werden.