Zurück zum Pruth!

Auf dem Weg von der rumänischen Stadt Iaşi habe ich die Grenzstation zu Moldawien mit ihren Kontrollen hinter mich gebracht und die schönen hellblauen Pässe der Republik Moldau bewundert, die fast alle Mitreisenden vorgezeigt haben, und steige wieder ein in den Mikroautobus, der uns nach Chişinău bringt.

Gedanken für den Tag 15.10.2019 zum Nachhören (bis 14.10.2020):

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Da fahren wir über den Pruth. Ich möchte einen Schrei ausstoßen, ich möchte den Fahrer anhalten lassen, aber niemand würde das verstehen. Ich kann es nicht glauben, dass der Pruth hier so klein ist und so bescheiden daher fließt, als wäre er irgendein Bach. Der Pruth ist mit seinen fast tausend Kilometern Länge der zweitgrößte Nebenfluss der Donau und der Fluss in Europa, über den ich am meisten gelesen und den ich doch nie gesehen habe. Ich war ja noch nicht in Czernowitz, dem „Klein-Wien am Pruth“, wie es genannt wurde. Dort ist Rose Ausländer geboren, ich habe ihr Gedicht „Pruth“ im Ohr, das mit den Versen beginnt:

Da zirpten die Kiesel im Pruth
ritzten flüchtige Muster in
unsre Sohlen

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

Geschichte Europas

Rose Ausländer, die es nach Amerika verschlagen und die lange in Deutschland gelebt hat und dort gestorben ist, schreibt gegen Ende dieses Gedichts die Zeile: Immer zurück zum Pruth. Der Fluss war der Anker ihrer Erinnerung.

Der Pruth war ab 1812 die Grenze zwischen dem Russischen und dem Osmanischen Reich. 1941 wurde der Dichter Paul Celan, vor 99 Jahren in Czernowitz geboren, zusammen mit anderen Juden zu Arbeiten an der gesprengten Pruth-Brücke eingesetzt, was ihm wahrscheinlich das Leben gerettet hat. im August 1944 kam es am Pruth zu einer der größten Schlachten des Zweiten Weltkriegs: 150.000 deutsche Soldaten sind gefallen – mehr als in Stalingrad. Heute folgt die Grenze zwischen Rumänien und Moldawien dem Verlauf des Pruth – eine EU-Außengrenze.

Im Pruth spiegelt sich die Geschichte Europas, gerade auch in ihren schlimmsten Facetten, und der Pruth fließt daher wie ein harmloser Bach. Und ich fahre zum ersten Mal über den Pruth und kann nicht anhalten. Ich muss ein ander Mal wiederkommen. Zurück zum Pruth!

Musik:

Walter Küssner/Viola, Klaus Stoll/Kontrabaß und Andras Adorjan/Flöte, Piccoloflöte: „Andante - 3. Satz“ aus: Concertino für Flöte, Viola und Kontrabaß WV 75 von Erwin Schulhoff
Label: PHIL 06004 (Berliner Philharmoniker)