Angekommen im Land

Ist man nur wenige Tage in einem Land, spricht die Sprache nicht und wohnt im Hotel, so bleibt man Tourist, ob man will oder nicht; das habe ich in Moldawien erfahren.

Gedanken für den Tag 18.10.2019 zum Nachhören (bis 17.10.2020):

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Wirklich angekommen im Land bin ich durch ein Buch, das mir mehr in Erinnerung bleibt als fast alles, was ich selber gesehen habe. Geschrieben hat es die heute in Bukarest lebende Wissenschaftlerin und Schriftstellerin Liliana Corobca, es ist unter dem Titel „Der erste Horizont meines Lebens“ auf Deutsch erschienen. Hauptheldin dieses Romans ist die erst zwölfjährige Cristina, die auf sich allein gestellt ist und neben der Schule den Haushalt führt, sich um die Tiere kümmert und die zwei jüngeren Brüder versorgt. Die Mutter arbeitet in Italien, der Vater in Sibirien.

Vielleicht gibt es gute Väter...

„Ärztinnen mit Universitätsabschluss und sechs Jahren Turnus arbeiten als Putzfrauen in Europa“, erzählte Liliana Corobca, als sie ihr Buch in Wien vorstellte. Kein Wunder in einem Land, in dem junge Ärzte 80 Euro und Lehrerinnen 60 Euro im Monat verdienen – falls sie überhaupt eine Anstellung finden.

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

Es gibt Momente unvorstellbarer Tristesse in dem Roman „Der erste Horizont meines Lebens“, aber Cristina entwickelt eine unbändige Lebenskraft. Und so wird das Haus der drei Kinder auch noch zu einem Zufluchtsort für andere Kinder, die von ihren Eltern geschlagen werden. Cristina erzählt: „Alle, die zu uns kommen, beklagen sich. Vielleicht gibt es gute Väter, aber deren Kinder bleiben zu Hause, weil es ihnen gut geht. Ich weiß das, aber ich sage es Marcel nicht, lasse ihn glauben, so, ohne Vater, sei es besser.“ Marcel ist Cristinas dreijähriger Bruder, und sie beschützt ihn wie eine erwachsene Frau. Einmal, als sie das Haus geputzt hat und Marcel es verdreckt, will sie ihn schlagen. Aber als sie sieht, wie hilflos er auf die Schläge wartet, ohne zu verstehen, warum er sie bekommt, hält sie inne und erklärt ihm alles und ist stolz auf sich, dass sie das schafft.

Ein anderes Mal taucht „ein kleines, zerlumptes, gequältes und hungriges Kind“ auf – die Eltern haben es hergeschickt zum Stehlen. Und Cristina gibt ihm freiwillig etwas, damit es nicht zu Hause geschlagen wird, weil es nichts mitbringt.

Auch wenn einem oft der Atem stockt beim Lesen: „Der erste Horizont meines Lebens“ ist ein Buch der unverwüstlichen Lebenskraft eines Mädchens in Moldawien.

Buchhinweis:

Liliana Corobca, „Der erste Horizont meines Lebens“, Paul Zsolnay Verlag

Musik:

She’Koyokh: „Hora De La Munte"
Label: Riverboat Records/World Music Network TUGCD1080