Der Fluß Dnister

Bei meinem kurzen Aufenthalt in Moldawien habe ich vieles nicht gesehen – zum Beispiel den Fluss Dnister, der das Land im Osten begrenzt.

Gedanken für den Tag 19.10.2019 zum Nachhören (bis 18.10.2020):

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Östlich davon liegt Transnistrien – jener seit 1992 von Moldawien abgetrennte und unter russischem Einfluss stehende Landesteil mit Parallelstrukturen, der aber als Staat nicht anerkannt ist. Transnistrien wurde auf ähnliche Weise unter russischen Einfluss gebracht wie heute die Ostukraine. Und ich habe es nicht gewagt, ohne Russischkenntnisse dorthin zu fahren.

Armut und Lebenswille

Ich kenne den Dnister nur aus der Lektüre. Der 2018 verstorbene deutsche Schriftsteller Edgar Hilsenrath hat in seinem Roman „Nacht“ mit versessener Detailtreue furchtbare Ereignisse im Ghetto von Moghilev-Podolsk der Jahre 1941 bis 1944 geschildert. Hunger lässt den Menschen zum Tier werden.

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

Aber nicht nur den Dnister, auch vieles andere habe ich noch nicht gesehen, als mich der Mikroautobus wieder zurückbringt nach Rumänien, nach Iaşi. Wir fahren einige Zeit, da leuchtet bei den Armaturen eine rote Lampe auf. Der Fahrer bleibt stehen und telefoniert; und blickt auf die drei Ikonen-Bildchen neben den Armaturen. Der Bus lässt sich nicht mehr starten. Ein Roma überholt uns mit seinem Pferdewagen und lacht. Ein Passagier will helfen, der Chauffeur raucht, die beiden diskutieren heftig. Irgendwann nach langem Warten kommt dann ein Ersatz-Bus, spät in der Nacht sind wir wieder in Iaşi.

Auch das Leben in Iaşi ist kein Honiglecken – von einem Uni-Job kann dort niemand leben, alle arbeiten daneben noch in einer Sprachschule oder einer ähnlichen Einrichtung. Aber im Vergleich zur Republik Moldau, einem der ärmsten Länder Europas, ist es wunderbar.

Und doch nehme ich aus Moldawien nicht nur die Tristesse und die Armut mit, sondern auch die Hoffnung und den Lebenswillen, den ich in der orthodoxen Kirche und im Gespräch mit der ganz für Sprache und Literatur lebenden Natalja gespürt habe; und vor allem von dem 14-jährigen Mädchen Cristina aus dem Roman „Der erste Horizont meines Lebens“. Moldawien wird mich nicht loslassen.

Buchhinweise:

  • Liliana Corobca, „Der erste Horizont meines Lebens“, Paul Zsolnay Verlag
  • Edgar Hilsenrath, „Nacht“, Eule der Minerva

Musik:

DuoCord: „Danza Moldawia“ von Vincent Geer
Label: Extraplatte EX8582