Bibelessay zu Lukas 18,1-8

Stellen Sie sich vor, ein sehr mächtiger Mann, völlig skrupellos, für den weder Recht noch Anstand gelten, ein solcher Mann hat Angst vor einer völlig rechtlosen Witwe, dass sie ihn ohrfeigt. Das kann nicht sein. Diese Geschichte, die Jesus da erzählt, stimmt so nicht.

Jesus erzählt Beispielgeschichten und Gleichnisse, wenn ihm etwas wichtig ist, überliefert in den Evangelien. Eines ist klar: Jesus erzählt, dass die gewohnte Ordnung so nicht stimmt. Wie der Richter im Gleichnis dargestellt ist, würde er der Witwe kein Recht verschaffen, sondern ihr drohen, sie mundtot machen oder aus dem Weg räumen lassen. Doch der Richter verhält sich nicht so, wie erwartet.

Helga Kohler-Spiegel
ist katholische Theologin und Psychotherapeutin aus Vorarlberg

Die gewohnte Ordnung

Die Geschichte, die Jesus erzählt, irritiert die gewohnte Ordnung. Das ist wohl Absicht: Jesu Botschaft irritiert die gewohnte Ordnung. Schon am Beginn des Lukas-Evangeliums heißt es im Lobgesang Marias, dem „Magnifikat“: „Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron, und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.“ (Lk 1,51b-53)

Ein zweiter Gedanke: Jesus überzeichnet den Richter und deutet ihn auf Gott hin: Es gibt Menschen, deren Bild von Gott ähnlich willkürlich und despotisch ist wie der Richter. Damit soll Schluss sein. Jesus verkündet: Gott ist anders. Gott ist zugewandt, Gott verhilft denen, die zu ihm rufen, „unverzüglich“ zu Recht und Gerechtigkeit, so die Botschaft Jesu.

Nun ja, denke ich mir. Ich weiß – leider, dass dem nicht so ist. Ich erlebe oft, zu oft, dass Unrecht auch Unrecht bleibt, dass Menschen einander und der Natur so unendlich viel Leid zufügen. Wenn der Textabschnitt aus dem Lukasevangelium hier fertig wäre, wäre das schwierig, finde ich.

Aber: Der Schlusssatz tönt anders

"Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, den Glauben auf der Erde finden?“ (Lk 18,8b) Von Beten und von Glauben ist die Rede. Beten heißt für mich, in Austausch, in Beziehung, in Verbindung mit Gott zu treten. Glauben heißt im Hebräischen Festhalten an Gott. Beides zielt in eine Richtung: Wenn ich auf die Welt und ihre Spielregeln schaue, scheint es oft sinnlos, zu beten und zu glauben, in Beziehung mit Gott zu bleiben und an Gott festzuhalten. Manche manchen sich lustig darüber: Wie kann man an Gott festhalten angesichts des Zustandes der Welt? Und ja, das kenne ich auch: Einmal Nachrichten hören reicht aus, um zu verzweifeln.

Lebenskunst
Sonntag, 20.10.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Genau hier erinnert das Lukasevangelium: Nein, es ist ganz wichtig, in Verbindung zu bleiben, in Kontakt zu bleiben. Es ist möglich, die Welt zu verändern. Es ist möglich, sich gegen Unrecht, Verfolgung und Folter zu engagieren und etwas für die Menschen- und Kinderrechte zu tun, es ist möglich, sich für den Regenwald und für den Klimaschutz zu engagieren. Ja, es ist möglich.

Aber es liegt an mir, nicht zu verzweifeln, nicht zu resignieren, sondern in Beziehung und in Verbindung zu bleiben. Und plötzlich ist für mich das Gleichnis nicht mehr komisch, sondern wichtig: Dann will dieses Gleichnis Jesu Mut machen: Nicht lockerlassen. Dranbleiben. Allezeit – nicht nachlassen. In Verbindung bleiben mit mir selbst, mit den anderen Menschen und mit Gott, sich nicht entmutigen lassen, nicht resignieren – sondern: sich weiterhin engagieren, Recht schaffen – den Menschen und der ganzen Schöpfung.