Bibelessay zu Lukas 18,9-14

Gleichnisse wirken auf mich wie ein literarischer Holzschnitt. In ihnen finden sich typoshafte Gestalten, die bei einfachen Handlungen geschildert werden, und am Schluss springt meist eine ebenso einfache, klare Folgerung auf.

Das eben gehörte Gleichnis entspricht dem genau. Zwei gehen in den Tempel, sie beten, und bald wird klar, wer der vermutlich Gute und der vermutlich Schlechte ist und was daraus gelernt werden kann.

Wolfgang Treitler
ist katholischer Theologe und Judaist

Feindbild Pharisäer

Als ich über dieses Gleichnis nachgedacht habe, ist mir ein Erlebnis eingefallen, das ich in Jerusalem hatte. Es ist ein Sonntagmorgen, zeitig in der Früh, etwa 5.20 Uhr. Ich gehe in eine Art von Tempel, und dieser Tempel ist die Rambam-Synagoge in der Jerusalemer Altstadt. Ich trete ein und sehe mehr als ein Dutzend Herren, vorne, in der Mitte und auch hinten. Morgengebet. Ich setze mich in die letzte Reihe auf irgendeinen Platz. So schaue ich den Herren zu. Der vorne am Pult steht, begleitet sein Gebet mit rhythmischen Bewegungen. Mein Blick bleibt einige Zeit auf ihm, und plötzlich kommt mir dieses Gleichnis in den Sinn, die Szene mit den beiden Betern. Fast überfällt es mich mit seinen markanten Bildern. Der da vorne steht, nun, was mag er beten? Die Morgengebete wird er beten. Fühlt er sich gerecht, weil er das tut? Besser als die, die das nicht tun? Besser als ich, der ich gar nicht bete, sondern den Herren zuschaue?

Während meine Gedanken und Fragen dahinziehen, weigere ich mich mehr und mehr, das Gleichnis als eine Geschichte anzunehmen, die mir mitteilen wird, wer der Heuchler ist - der vorne, das Bild eines Pharisäers - und wer aufrichtig ist - vielleicht irgendein Hinterbänkler oder sogar einer, der nicht in der Synagoge ist.

Lebenskunst
Sonntag, 27.10.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Und mir fällt auf: Von dem, was ich in diesem Gleichnis vernehme, hat sich besonders das Feindbild festgesetzt - der Pharisäer, der Heuchler. Tatsächlich können Gleichnisse Feindbilder hervorbringen, die sich geradezu ins Gedächtnis ätzen, weil Gleichnisse so einfach und einprägsam sind. Der Pharisäer ist eines der übelsten Feindbilder. Es wurde durch Evangelienstellen wie die heutige hervorgebracht und in der christlichen Antike etwa durch den Prediger Johannes Chrysostomos besonders gepflegt, um die heuchlerische Verlogenheit von Juden insgesamt den christlichen Gottesdienstbesuchern und -besucherinnen einzuhämmern. Und so setzte es sich im kollektiven christlichen Bewusstsein fest und wirkt damit ungebrochen bis zum heutigen Tag. Eine furchtbare Wirkung, wie ich dasitzend an mir selbst bemerke.

Von der Selbstsicherheit zur Offenheit

Ich schaue mir wieder den Vorbeter an, diesmal genauer; ich schaue mir auch die anderen Herren an und nehme mich in der Synagoge wahr. Sie alle beten, ich nicht. Kann es tatsächlich sein, dass, wer betet, sich in Selbstgefallen treiben lässt? Kann es sein, dass, wer betet, wirklich sich selbst bestätigen will und tatsächlich bestätigt? Wie der Pharisäer des Gleichnisses ist auch dessen Beten Karikatur, schlechte Karikatur. Gebet ist doch kein Selbstgespräch. Gebet gibt keine Selbstbestätigung. Daher ist Gebet auch keine Heuchelei.

Wenn dieses Gleichnis einen Sinn haben soll, dann vielleicht den, dass es eine Bewegung des Betens anzeigt, die sich zwischen den beiden Typen des Gleichnisses ausspannt: Wer betet, beginnt für mich gewissermaßen einen Weg, auf dem er oder sie aus sich selbst heraustritt und aufhört, sich genau das vorzumachen, was heute aus so vielen Winkeln dröhnt, dass man nämlich der Beste sein muss, in allem und zu jeder Zeit, gut sichtbar, ein Leitstern, ein Star.

Wer betet, geht meiner Meinung nach den Weg von der Selbstsicherheit zur Bescheidenheit, den Weg von der Übersichtlichkeit zur riskanten Offenheit, den Weg vom Selbstgespräch zum Gespräch am Abgrund meiner selbst, den Weg vom religiösen Könner, dem geölte Worte so selbstverständlich sind wie das Ausatmen, zum verlegen stammelnden Bekenner. Vielleicht ist es sogar besser zu sagen: Wer betet, geht nicht diesen Weg, sondern wird auf diesen Weg versetzt, wird auf ihn ausgesetzt. Wer betet, wird unsicher.

Ein Weg

Mit diesen Gedanken verlasse ich die Rambam-Synagoge und gehe wenige 100 Meter Richtung Osten. Über dem Kamm des Ölbergs glüht der morgendliche Himmel. Wenig später der erste Sonnenblitz. Ein schwarzer Vogel fliegt auf und ins Licht.

Und rückblickend glaube ich, dass ich vorhin mit diesen Herren gemeinsam gebetet habe, wirklich gebetet, und jeder von uns war in eine Bewegung gekommen, die das Gleichnis vom Beten für mich anzeigt: Weg von der Selbstsicherheit hin zu einer Bescheidenheit, die alle auf ihre eigene Weise erleichtern und frei machen kann. Beten ist in diesem Sinne keine Fertigkeit und kein Selbstgespräch. Es ist ein Weg. Und wenn ich mich an die Viertelstunde in der Rambam-Synagoge erinnere, dann scheint mir: Diesen Weg habe ich eben erst wieder begonnen, ein paar Schritte auf ihm gesetzt. Weg von der Selbstsicherheit eines Selbstgesprächs hin zur Offenheit jenseits der Grenzen meines engen Ichs.