Die Pflicht des Erinnerns

Diese Woche steht im Zeichen des Erinnerns: Vor 30 Jahren der Fall der Berliner Mauer, vor 81 Jahren die November-Pogrome.

Gedanken für den Tag 5.11.2019 zum Nachhören (bis 4.11.2020):

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Religionen sind gewissermaßen Spezialisten der Erinnerung, ihre Feste sind Hoch-Zeiten des Erinnerns. Vergangenes wird im festlichen Erinnern gegenwärtig und verbindet alle Feiernden. So wird ein kollektives Gedächtnis gestärkt, wie dies etwa besonders im Judentum der Fall ist. Die große Bedeutung von Erinnern und Gedenken wird schon daran erkennbar, dass das hebräische Verb für erinnern, „zachar“, 169 mal in der in der Hebräischen Bibel, christlich Altes Testament genannt, vorkommt.

Martin Jäggle
ist katholischer Theologe und Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit

Geschenkte Freiheit

Dieses Erinnern steht gegen Vergessen. Im Pessach-Fest erinnert das jüdische Volk dankbar an den Exodus, an das Geschenk der Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens, so dass alle, die mitfeiern, aus Ägypten ausgezogen sind. Es ist ein Fest voll Freude und Dankbarkeit, frei von jeder Nostalgie und Romantik. Bemerkenswert ist dabei, wenn der zehn Plagen gedacht wird. Die zehn Plagen zwangen gemäß der biblischen Erzählung mit Erfolg die Ägypter, die Israeliten ziehen zu lassen. Deshalb verringern Juden ihre Freude bei der Pessach-Feier, indem sie bei der Nennung jeder Plage einen Tropfen Wein versprengen. Diese Anerkennung des Leids der Ägypter erinnert sie zugleich daran, dass Freiheit niemals auf Kosten anderer geschehen darf.

Die religiöse Pflicht der Erinnerung an die geschenkte Freiheit hat auch praktische Konsequenzen. Wiederholt erinnert die Bibel an die Erfahrung, Fremde und Sklaven in Ägypten gewesen zu sein. So heißt es im Buch Exodus: „Einen Fremden sollst du nicht ausbeuten. Ihr wisst doch, wie es einem Fremden zumute ist; denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen.“ (Ex 23,9) und im Buch Leviticus wird gefordert: „Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.“ (Lev 19,33-34 i.A.)

Musik:

Dave Arch/Piano und London Symphony Orchestra unter der Leitung von Alexandre Desplat: „Kaddish for Seymour“ aus: AMERICAN PASTORAL / Original Filmmusik von Alexandre Desplat
Label: Sony Classical 88985392312