Alltag

“Eine Art Mit-Schrift wäre mein Schreibideal“, hat Christa Wolf einmal gemeint. LebenSchreiben – in einem Wort – nennt Christa Wolfs Biografin, Sonja Hilzinger, diese Einheit, dieses ideale Ineinander.

Gedanken für den Tag 30.11.2019 zum Nachhören (29.11.2020):

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Christa Wolf achtete die Größe im scheinbar Kleinen des Alltags. Wenig erstaunlich, dass sie ihr ganzes Leben lang Tagebuch schrieb. Eines dieser Journale geht auf einen Aufruf der Moskauer Zeitung Iswestija an die Schriftsteller der Welt von 1960 zurück. „Sie mögen einen Tag des Jahres, den 27. September, so genau wie möglich beschreiben.“ Christa Wolf begann sofort, führte diese Aufzeichnungen bis an ihr Lebensende und publizierte sie 2000 unter dem Titel „Ein Tag im Jahr“. Im Vorwort begründet sie diese Art zu schreiben: „Als erstes mein Horror vor dem Vergessen, das /.../ besonders die von mir so geschätzten Alltage mit sich reißt.“

Ingrid Pfeiffer
ist Autorin, Germanistin und Erwachsenenbildnerin

Wahrheitsgetreu erfinden

Ich habe Christa Wolf vieles zu danken. Dass sie mich mit der Hochachtung vor dem alles tragenden Alltag nicht allein ließ, gehört mit zum Wichtigsten. Aber Wolfs Wertschätzung des Alltags und seiner Mit-Schrift beruhte auch auf Überlegungen wie dieser, „dass das nackte, bloße Leben nicht ohne weiteres mit sich selber fertig wird: unbeschrieben, unüberliefert, ungedeutet und unreflektiert.“

Christa Wolf hat für sich eine Haltung im Schreiben gefunden, die ihr die persönliche Anwesenheit und Kenntlichkeit auch in vielen ihrer fiktionalen Texte ermöglichte. Recht treffend wird von einigen ihrer Bücher als von Alltagsprosa gesprochen. Ich habe diese Bezeichnung immer als Auszeichnung verstanden. Sie schrieb ja das Leben nicht ab – und tat es in keinem möglichen Wortsinn dieser Wendung. Aber sie ließ sich zusehen beim Schreiben und forderte die Lesenden auf, ihr „auf eine Reise zu folgen, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.“ Und damit beschrieb sie auch, womit ihre Poetik sich zusammenfassen lässt: „Zu erzählen heißt: wahrheitsgetreu zu erfinden auf Grund eigener Erfahrung.“

Musik:

„Altes Geld – Der Biber“ von Kyrre Kvam
Label: ORF-Enterprise Musikverlag