Bibelessay zu Jesaja 11,1-10

Im christlich-jüdischen Dialog habe ich gelernt, dass man die Texte des Alten Testaments immer auch als eigenständige Texte, die für das Judentum bis heute bedeutsam sind, lesen kann und soll. Dabei habe ich neue, vergessene Facetten der Texte entdeckt, die dann wiederum meinen christlichen Glauben vertieft haben.

Denn wie viele Katholikinnen und Katholiken habe auch ich gelernt, dass der Prophet Jesaja in diesem Text Jesus von Nazareth ankündigt. Jesus wird dann mit jenem Messias identifiziert, der aus dem Stamme Davids, dem Sohn Isais, kommen soll, und mit dem all die Visionen einer guten, gerechten und friedlichen Welt wahr geworden sind. Aus der Sicht des christlichen Glaubens stimmt das auch, aber wenn man den Text nur aus dieser Sicht betrachtet, geht etwas Wesentliches verloren. Dann wird er auf eine bloße Ankündigung verkürzt, die sich mit der Geburt Jesu erfüllt hat. Damit wird die Botschaft von Jesaja ihrer immer noch relevanten Kraft beraubt und gleichsam erledigt.

Regina Polak
ist katholische Theologin und Religionssoziologin

Sehnsucht nach Gerechtigkeit

Dabei ist diese Prophetie voll von dem, was man auch in der christlichen Theologie Messianismus nennt: Jene tief im Judentum bis heute verankerte Sehnsucht nach einer Zukunft, in der das Böse ganz besiegt ist und in der die Gerechtigkeit und der Friede Gottes herrschen. Eine Sehnsucht, die mit dem Kommen des Messias in Verbindung gebracht wird. Denn im Unterschied zu vielen anderen Religionen und Mythen trauert das Judentum nicht der verlorenen Vergangenheit nach, sondern hofft auf die von Gott versprochene und verheißene Zukunft. Diese Zukunft wird in der Prophetie des Jesaja mit kräftigen Bildern beschrieben.

Da ist die Rede vom Geist Gottes und seinen Gaben: Weisheit, Einsicht, Rat und Stärke, Erkenntnis und Gottesfurcht. Dieser Geist wird die Erde erfüllen. Verheißen wird da aus meiner Sicht eine innere Wende aller Menschen, die dann von diesem Geist erfüllt werden.

Lebenskunst
Sonntag, 8.12.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Da ist die Rede von einer Gerechtigkeit, die vor allem die Hilflosen und Armen im Blick hat und dem üblen Treiben der Gewalttäter ein Ende setzen wird. Ich höre da die Vision einer neuen, gerechten Praxis, die die Gesellschaften verändert.

Da wird eine Form friedlichen Zusammenlebens beschrieben, in der das Lamm den Wolf, das Kalb den Löwen und kein Säugling die Natter mehr fürchten muss. Für mich entsteht da das Bild einer Gesellschaft ohne Angst, in der Schwache und Starke, ja sogar Feinde friedlich miteinander leben können.

Erinnerung an die noch ausständige Zukunft

Freilich, der Blick auf die Geschichte und die Gegenwart zeigt, dass die Welt noch ein ziemliches Stück von der Wirklichkeit dieser Verheißungen entfernt ist. Eigentlich müsste ich verzweifeln – oder mich vielleicht sogar fragen, wie das denn möglich ist, wenn der Messias doch bereits in Christus gekommen ist. Der Jesaja-Text, für sich gelesen, verhilft mir zu einer Antwort. Er weckt in mir eine ungeheure Sehnsucht – jene Sehnsucht, die ich brauche, damit ich den Verheißungen weiterhin vertrauen und zu ihrer Verwirklichung beitragen kann. Diese Sehnsucht wird der Raum, in dem ich dann auch an Christus als den Messias glaube.

Jesaja erinnert mich, dass die messianische Sehnsucht auch nach der Geburt Jesu nicht zu einem Ende kommen kann und darf. Die Verheißung ist aus christlicher Sicht in Jesus Christus erfüllt. Aber sie ist nicht abgeschlossen, weil das Versprechen Gottes noch nicht ganz eingelöst ist. Denn auch Christinnen und Christen erwarteten die Wiederkunft des Messias und die Errichtung dieser geretteten Welt. Jesaja erinnert Christinnen und Christen an eine noch ausständige Zukunft. In diesem Sinn ist der Advent für mich nicht nur eine Zeit der Erinnerung an die Geburt des Jesus von Nazareth. Er ist auch eine messianische Zeit, in der ich mich an die von Gott verheißene Zukunft erinnere und mich auf diese freue.