Aufgeweckte Hirten – wenn das Herz den Verstand führt

Große Gestalten der Bibel – menschlich gesehen, Teil 6: Die Tierwelt hat im Christentum einen vergleichsweise schlechten Stellenwert. Bis dato sind Tiere vor allem dadurch definiert worden, was sie nicht sind: nicht der Mensch, die Krone der Schöpfung.

Erst langsam kommt eine christliche Tierethik zum Tragen. Erst langsam wird bewusst, wie riesig der moralische Unterschied ist zwischen einer klein strukturierten Landwirtschaft und der Massentierhaltung. Zwischen der Bäuerin und dem Bauern, die ihre Kühe mit Namen anreden, und dem hoch technisierten Stall mit automatischer Melkanlage und computergesteuerter Fütterung.

Josef Bruckmoser
ist katholischer Theologe, Wissenschaftsjournalist und Buchautor

Ein Kind, aus dem etwas ganz Großes werden soll

Hirten hätten wohl viel davon zu erzählen, wie Tiere wirklich sind. Was der Evangelist Lukas schildert, ist freilich alles andere als ein Idyll, auch wenn es so klingt: „In jener Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde.“ Es ist ein hart verdientes Brot gewesen, bei jedem Wetter, Tag und Nacht bei der Herde zu sein und jedem verirrten Schaf nachzugehen, damit nur ja keines verloren ging.

Kein Wunder, dass da jede Abwechslung willkommen war. Was immer plötzlich in diese Hirten gefahren ist: Irgendwie musste sich die Fama verbreitet haben, dass es in Betlehem etwas Besonderes zu sehen gab. Nur ein Kind zwar, aber aus dem sollte einmal etwas ganz Großes werden. Es war sogar davon die Rede, dass es sich um den Messias handeln sollte, übersetzt „Christus“. Der ist in den Heiligen Schriften als der Retter und Befreier angekündigt worden. Der neue König, der die verhassten Römer endlich aus dem Land vertreiben würde. „Das wäre ja voll super, wenn wir die Ersten wären, die diesen Messias zu sehen bekämen“, sagten sich die Hirten. „Dann werden wir am Ende noch im ganzen Land bekannt.“ Manch einer träumte schon davon, dass er als großer Botschafter dieser Geschichte von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dort ziehen würde. Das wäre wahrlich ein schöneres Leben als den ganzen Tag und viel mehr noch die vielen langen Nächte bei den Schafherden zu wachen.

Geheimnisvolle Boten

Freilich, die Hirten sind gestandene Männer und keine Fantasten gewesen. Dass sie sich so sehr haben begeistern lassen, hängt wie so Vieles in den Erzählungen von der Kindheit Jesu wieder mit Engeln zusammen. Diese geheimnisvollen Boten kommen aus einer Welt ohne Zeit und Raum, sie kommen so gesehen von einem großen Gegenüber, das Gott genannt wird und sich durch sie den Menschen bemerkbar macht. Oft geschieht das in einem Traum. Bei den Hirten lässt Lukas dagegen „ein großes himmlisches Heer“ von Engeln am nächtlichen Himmel erscheinen. Das muss wie eine übersinnliche Vision gewirkt haben, wie eine Fata Morgana am Firmament. Die Hirten hatten tatsächlich den Eindruck, dass eine neue Zeit anfing. Für sie selbst und vielleicht sogar für alle Menschen.

Lebenskunst
Donnerstag, 26.12.2019, 7.05 Uhr, Ö1

Wieder geht es hier nicht um historische Fakten. Es geht um den Glauben dieser einfachen Menschen. Die Hirten sind keineswegs naiv, dazu sind sie von ihrem harten Leben viel zu abgebrüht. Sie sind im besten Sinne gutgläubig. Der klassische Satz dafür steht beim Evangelisten Matthäus, der Jesus die Worte in den Mund legt: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast.“ Für den Evangelisten Lukas ist wichtig, dass das von Anfang an so gewesen ist. Die Hirten haben es erfasst, dass mit diesem Kind in Betlehem eine neue Zeitrechnung begonnen hat – nicht die Könige auf ihren Thronen und nicht die Hohenpriester in ihrem prächtigen Tempel.

Die Erzählung über die Hirten, die aufgebrochen sind, gehört zu den besonders tröstlichen Stellen im Lukasevangelium. Sie sagt, dass jeder Mann und jede Frau Wunder erleben kann, wenn das Herz dafür offen ist. So offen wie es damals bei den Hirten war und wie es zu Weihnachten oft bei den Kindern ist. Die stehen mit strahlenden Augen und offenem Mund vor dem Christbaum und können sich gar nicht genug darüber wundern, dass die Welt so schön sein kann.