Simeon und Hanna – die Prophetin hat etwas zu sagen

Große Gestalten der Bibel – menschlich gesehen, Teil 8: Das Volk Israel wartet auf den Erlöser, auf den Retter, auf den, mit dem eine neue Zeitrechnung beginnen wird. Auf den Maschíach, in griechischer Transkription Messías, übersetzt Christós und latinisiert Christus. Das war vor mehr als 2000 Jahren so und ist heute so.

Simeon und Hanna, von denen der Evangelist Lukas erzählt, sind Prototypen dieser Wartenden. Sie sind beide sehr alt. Von Hanna heißt es, dass sie 84 Jahre zählt – eine Zahl von biblischer Vollkommenheit: 7 mal 12 ist 84. Als junge Frau war sie sieben Jahre verheiratet, dann blieb sie kinderlose Witwe. Von Simeon heißt es, er werde den Tod nicht schauen, ehe er den Messias des Herrn gesehen habe, den Retter und Erlöser, auf den das ganze Volk gewartet hat. Er hatte also auch bereits ein stattliches Alter.

Josef Bruckmoser
ist katholischer Theologe, Wissenschaftsjournalist und Buchautor

Hanna ergreift das Wort

Warten ist keine Haltung, die besonders gut in die heutige Zeit passen würde. „Just in time“ heißt die allgegenwärtige Formel der Beschleunigung. Ganz anders Simeon und Hanna. Simeon hat auf die Verheißung vertraut, die ihm gegeben wurde. Jetzt, am Ende seiner Tage, war es so weit. Als Maria und Josef ihren Erstgeborenen in den Tempel bringen, darf der Greis diesen Säugling in der Hand halten. Er ist überglücklich: „Denn meine Augen haben das Heil gesehen, / das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet, / und Herrlichkeit für dein Volk Israel."

Da will Hanna nicht zurückstehen. Sie war sich bewusst, dass im Tempeldienst eine strenge männliche Hierarchie herrschte. Aber das hat noch lange nicht geheißen, dass sie als Frau zwangsläufig schweigen musste. Sie war Prophetin, diesen Ehrentitel hat Lukas ihr gegeben. Prophetinnen und Propheten waren Menschen, die sich nicht von einem äußeren Anschein haben täuschen lassen. Sie haben einen höheren Auftrag gespürt, sie haben mehr gesehen als andere und sie hatten daher etwas zu sagen. Also ergreift auch Hanna ganz selbstverständlich das Wort, wie der Evangelist schreibt: „In diesem Augenblick nun trat sie hinzu, pries Gott und sprach über das Kind zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten."

Tragende Rolle von Frauen

Vordergründig treten in den sogenannten Kindheitsgeschichten im Neuen Testament bei den Evangelisten Lukas und Matthäus zwar die Männer groß in Erscheinung. Vor allem, wenn es um Aktion geht, um „action“. Die Hirten rennen, weil es eine Sensation zu sehen gibt. Die weisen Seher nehmen eine weite Reise auf sich, weil sie ihre astronomische Theorie bestätigt wissen wollen. Herodes schlägt wild um sich, weil er Tag und Nacht gepeinigt wird von der Angst um seine Macht.

Lebenskunst
Mittwoch, 1.1.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Mit Hanna tritt dagegen einmal mehr die tragende Rolle von Frauen in den weihnachtlichen Erzählungen der Bibel zu Tage. Da sind die beiden Mütter der großen Propheten des Neuen Testaments. Elisabet, die Mutter von Johannes dem Täufer. Und Maria, die Mutter von Jesus. Sie werden gesegnet und von ihnen geht Segen auf andere aus. Und da ist Hanna, die wie Simeon einen solchen Segen über Maria und ihr Kind spricht.

Viele Männer würden es ihnen danken

Wenn man genau hinschaut, sind es diese Frauen, die den Lauf der Geschichte – oder biblisch gesprochen der Heilsgeschichte – voranbringen. Elisabet redet Maria gut zu, was entscheidend dafür ist, dass die verzweifelte junge Frau ihr Kind überhaupt annehmen kann. Maria ihrerseits lässt sich nicht davon irritieren, was ihr Schlimmes über ihren Erstgeborenen prophezeit wird: Er werde die Mächtigen vom Thron stürzen – was nur gefährlich sein kann. Er werde ein Zeichen sein, dem widersprochen wird – was auch nichts Gutes erwarten lässt. Und Simeon prophezeit ihr sogar: „Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen.“

Die Frauen haben in den Weihnachtserzählungen keine so plakative Rolle wie die Männer. Aber sie sind näher dran am Kern des Geschehens. Sie bleiben nicht passiv, sie handeln. Sie schweigen nicht, sie reden. Heute wären viele Frauen in der römisch-katholischen Kirche froh, wenn sie so selbstverständlich als Prophetin reden könnten wie Hanna. Und viele Männer würden es ihnen danken.