Bibelessay zu Apg 6,8–7,1; 7,54–60

Ich bin im Schatten des Stephansdom und im Lichte der Synagoge aufgewachsen. Der Stephansdom war meine Pfarrkirche und vom Küchenfenster unserer Wohnung konnten wir auf die Laterne des Wiener Stadttempels schauen.

Wenn sie von Licht erhellt war, wussten wir, dass in der Synagoge gebetet und gefeiert wird. Stephansdom und Synagoge, diese ungleichen Zwei bilden in meinem Leben einen Zugang zur Geschichte von Stephanus und seiner Steinigung.

Als Pfarrkirche war der Stephansdom eine Art Zuhause, noch dazu wenn man wie ich jahrelang dort Ministrant war. Der Stefanitag war im Dom ein besonderer Tag. Vor meinen Augen sehe ich noch heute die leuchtend roten Messgewänder. Das Rot erinnert an das Blut der Märtyrer, das wusste ich, doch dieses Wissen hat mich innerlich nicht wirklich berührt. Für mich war es ein farbenfroher Gottesdienst zu Weihnachten unter dem gewaltigen Hochaltarbild, das die Steinigung des Stephanus zeigt.

Hinweis

Martin Jäggle ist Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit.

„Ich sehe den Himmel offen“

Doch nicht die grausame Seite der Steinigung bestimmt das Bild. Für mich prägend war die Gestalt des Stephanus, der - an den liturgischen Gewändern eines Diakons zu erkennen - im Vordergrund kniend gegen den Himmel blickt. Er sieht den Himmel offen. Das war für mich wie in der Christnacht bei den Hirten auf freiem Feld, wo der Engel zu ihnen sagt: „Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkünde euch eine große Freude.“

In dieser jugendlichen Erfahrung weiß ich mich von Lukas bestätigt, dem Autor der Apostelgeschichte, aus der heute ein Teil der Stephanuserzählung zu hören war. Er schildert ganz ausführlich, wovon der Jesus-Messias-Anhänger Stephanus erfüllt war mit dem Höhepunkt: „Ich sehe den Himmel offen.“ Dem Vorgang der Steinigung selbst widmet er nur einen nicht dramatisierenden Halbsatz. Stephanus wird als vorbildhaft, ja geradezu idealtypisch gezeichnet für alle, die Jesus als Messias anhängen.

Stephanus der Märtyrer

Wie Jesus wirkt er voll „Gnade und Kraft“, vollbringt „Wunder und große Zeichen“, ganz erfüllt „vom Heiligem Geist“. Für moderne Zeitgenossen mag es schwer nachzuvollziehen sein, aber die Erzählung vom ersten christlichen Märtyrer ermutigt gerade in bedrohlichen Situationen, im Beispiel des Stephanus selbst Mut und Kraft zum Gottvertrauen und zum Bekenntnis zu bekommen. Dies gilt gerade für die große Zahl an Christinnen und Christen weltweit, die unterdrückt und vertrieben werden. Konsequent feiert etwa die Evangelische Landeskirche in Württemberg am Tag des Stephanus den „Gebetstag für verfolgte Christen“.

Sendungshinweis

Lebenskunst, Donnerstag, 26.12.2019, 7.55 Uhr, Ö1.

Mit dem „Licht“ der Synagoge war für mich verbunden, inmitten jüdischen Lebens im Nachkriegs-Wien aufzuwachsen. Das machte mich sensibel für antijüdische Ressentiments. Zu viele Predigten schildern Stephanus als einen, der mit seiner jüdischen Gemeinschaft gebrochen hätte, dabei bekannten auch nach dem Tod des Stephanus viele Jahre nur jüdische Menschen Jesus als Messias.

Der Bibeltext schildert die Vielfalt der jüdischen Gesellschaft in Jerusalem zur Zeit des Stephanus. Zwischen den einheimischen Juden und den Hellenisten genannten Juden in der Diaspora gab es einen Konflikt um das Verständnis von Tora und Tempel. Diese innerjüdischen Spannungen bilden den Hintergrund von Stephanus’ Tod. Wer Stephanus für antijüdische Polemiken verwendet, kann sich nicht auf die Bibel berufen.