Tucholsky, der Prophet

Kurt Tucholsky, der vor 130 Jahren geboren wurde, war ein Prophet. Man kann auch sagen: Er war ein Seher – oder, noch besser: ein Sehender. Er hat, wie die biblischen Propheten, nicht die Zukunft vorausgesagt wie ein Wahrsager, sondern beschrieben, wohin die Dinge sich entwickeln werden, wenn die Menschen so weitermachen.

Gedanken für den Tag 10.1.2020 zum Nachhören (bis 9.1.2021):

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Im März 1925 erschien in der „Weltbühne“ unter Tucholskys Pseudonym Ignaz Wrobel ein Text mit dem Titel „Brief an einen bessern Herrn“. Da heißt es:

Gänsehaut als Kriterium für Kunst

„Also zunächst wird alles klappen. Sie können den Anschluss Österreichs erreichen, der für Sie unerlässlich ist, Durchdringung Österreichs mit dem preußischen Schwung“. Und ein paar Zeilen weiter:

Franz Josef Weißenböck
ist katholischer Theologe und Autor

„Die Tschechoslowakei wird nicht so leicht zu schaffen sein. Aber das ist auch gar nicht nötig. Dieser Staat, durchsetzt von Leuten, die keine Tschechen sind, oft noch geschüttelt von Nationalitätskämpfen, wenn auch bemerkenswert gut geführt, stellt für Sie, der Sie nicht anders als militärisch denken können, keine erhebliche Gefahr dar“.

Und schließlich schreibt Tucholsky: „Bleibt Polen. Sie kalkulieren so: Die Polen sind für den Anfang zu überrennen. Dazu ist nötig, dass Sie sich vorher mit Russland verständigen“.

Tucholsky lebte damals in Paris, es war – man muss es wiederholen – das Jahr 1925. Tucholsky war ein Prophet. Zum Schicksal von Propheten gehört es, dass sie nicht gehört werden. Man bekommt Gänsehaut, wenn man diese Zeilen heute liest. Und Gänsehaut, sagt Tucholsky an anderer Stelle, ist das einzige Kriterium für Kunst.

Musik:

Michael Heitzler/Klarinette und Münchner Festivalorchester unter der Leitung von Basil Coleman: „Tamerlan Slow“ aus: GRIPSHOLM / Original Filmmusik von Olivier Truan, David Klein und Kurt Tucholsky
Label: Voice of Joy VOJ 0400