Leiden und Solidarität

Fern von Deutschland wartete ich vor Jahren nachts auf einem Bahnhof. Auf einem Gleis weit draußen stand ein Zug mit brüllendem Vieh. Es war schon lang gefahren, und das Schlachthaus war noch fern. Der freundliche Beamte erklärte mir, die Wagen seien eng bepackt und die Stücke, die bei der rüttelnden Fahrt gestürzt seien, lägen unter den Hufen der anderen.

Gedanken für den Tag 15.2.2020 zum Nachhören (bis 14.2.2021):

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Max Horkheimer beschreibt im Jahr 1959 einen Tiertransport. Der kultivierte Beamte nennt die Tiere „Stücke“, erklärt sie zu Dingen, und es geht ihm offenbar nur darum, dass sich der Passagier nicht gestört fühlt. „Erinnerung“ heißt dieser wenig bekannte Text Horkheimers, und der Philosoph erinnert sich darin auch an qualvolle Tierexperimente, die er in seinen psychologischen Lehrveranstaltungen anzusehen gezwungen war. Diese Erinnerungen überblendet er mit Hinweisen darauf, was in totalitären Staaten Menschen angetan wird; und er stellt fest:

Solidarität mit allem, was lebt

Zwischen der Ahnungslosigkeit gegenüber den Schandtaten in totalitären Staaten und der Gleichgültigkeit gegenüber der am Tier begangenen Gemeinheit, die auch in den freien existiert, besteht ein Zusammenhang. Beide leben vom sturen Mittun der Massen bei dem, was ohnehin geschieht.

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

Max Horkheimer ist 1950 nach Frankfurt zurückgekehrt, um das Institut für Sozialforschung neu zu errichten. Er beschäftigt sich zunehmend wieder mit Schopenhauer, auf dessen Spuren er schon als junger Mann geschrieben hat: „Die Züge des Menschen haben zwar eine besondere Prägung, aber die Verwandtschaft seines Glücks und Elends mit dem Leben der Tiere ist offenbar.“

Solidarität mit allem, was lebt, Mit-Leiden wird für ihn zur unumstößlichen Basis der Ethik; „eine Solidarität, die sich daraus ergibt, dass die Menschen leiden müssen, dass sie endliche Wesen sind.“ Horkheimer sagt: „Solange es auf der Erde Hunger und Elend gibt, hat der, der sehen kann, keine Ruhe.“ Und deswegen ist ihm, dem Juden, auch das Christentum nahe, weil es, wie er einmal sagt, „denjenigen als das Vorbild achtete, der sich ans Elend und an die Leidenden aus Liebe hingab“.

Buchhinweise:

  • Alfred Schmidt, Gunzelin Schmid Noerr (Hg.), „Gesammelte Schriften“, Verlag Fischer
  • Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, „Dialektik der Aufklärung“, Verlag Fischer
  • Max Horkheimer, „Traditionelle und kritische Theorie“, Verlag Fischer
  • Max Horkheimer, „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“, Verlag Fischer
  • „Max Horkheimer mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten“, dargestellt von Helmut Gumnior und Rudolf Ringguth, Verlag Rowohlt
  • Rolf Wiggerhaus, „Max Horkheimer. Begründer der ‚Frankfurter Schule‘“, Societäts-Verlag

Musik:

Laurie Anderson/Violine, Eric Friedlander/Cello und Skuli Sverrisson/Bass: „Here with you“ von Laurie Anderson
Label: NONESUCH 7559-79539-2