An einem Faschingsdienstag

Lee nannten wir ihn, weil er damals, in der 60er Jahren ausschließlich Jeans der gleichnamigen Marke trug. In unserer Clique war er der Stille, der, der sich fern hielt, wenn wir gar zu kindisch waren. Er war der Gesprächspartner in nächtelangen Diskussionen über das Leben, aber auch der, der sich entzog, wenn es zu persönlich wurde.

Gedanken für den Tag 18.2.2020 zum Nachhören (bis 17.2.2021):

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Auf den Streifzügen durch die heimatlichen Wälder war er der Kümmerer, der die Zweige weghielt, wenn‘s durchs Gebüsch ging, der eine Hand reichte, wenn die Hindernisse zu hoch waren. Vor der Oberstufe verließ er das Gymnasium und begann eine Ausbildung zum Sozialarbeiter. Wir sahen ihn nur noch selten, weil er nur noch an manchen Wochenenden heim kam. Die Erinnerungen verwischen.

Luise Müller
ist evangelische Theologin

Die Bälle hatten ihre Faszination verloren

Und dann werden sie plötzlich wieder ganz klar. Wir waren alle bei einem Kostümball am Faschingsdienstag. Nicht nur Lee, auch sein Bruder fehlte aus unerklärlichen Gründen. Am Samstag davor waren wir auch alle zusammen unterwegs gewesen, in anderen Kostümen, aber ähnlich beschwingt, unbekümmert, die Nacht zum Tag machend, die Grenzen des alltäglichen Lebens massiv ausdehnend. Fasching eben. Das Gleiche hatten wir an diesem Abend vor, bis einer mit der unglaublichen Meldung kam, dass Lee seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Auf einmal war die Situation unerträglich: die Kostümierungen, die Musik, die Ausgelassenheit, der Alkohol, die Freizügigkeit. Wir saßen da, eine hilflose Gruppe als verstörter und isolierter Fremdkörper im Faschingstreiben. Schließlich gingen wir heim, um zu versuchen, das Unfassbare zu begreifen.

Keiner von uns hatte im Vorfeld irgendeine Ahnung gehabt. Er war uns der zuverlässige Freund, der gesellschaftlich Interessierte, der Verantwortliche. Waren das nur Masken, hinter denen er sich und seine Schwierigkeiten versteckte? Oder war dieser Tod eine schreckliche Kurzschlusshandlung? Wir haben‘s nie erfahren, was ihn in den Tod getrieben hatte, kein Abschiedsbrief half Familie und Freunden bei der Verarbeitung dieses Traumas. Und die geliebten Maskenbälle hatten ihre Faszination verloren.

Musik:

Michael Nyman/Klavier und Alexander Balanescu/Violine: „Miserere Paraphrase“ - Musik aus dem Film: Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber von Michael Nyman
Label: Virgin DVEBN 55(4)