Bibelessay zu Matthäus 5,17-37

„Ich aber sage Euch“: Immer wieder höre ich, wie diese Worte des Jesus von Nazareth – die sogenannten Anti-Thesen - in der christlichen Verkündigung dazu verwendet werden, die Überwindung der angeblichen Gesetzesfrömmigkeit der Jüdinnen und Juden durch Jesus herauszustreichen.

Ist das falsch? Immerhin werden die Hörerinnen und Hörer dieses Textes aus dem Matthäusevangelium ja doch dazu aufgefordert, gerechter zu sein als die Pharisäer und Schriftgelehrten.

Regina Polak
ist katholische Theologin und Religionssoziologin

Jesus und das jüdische Gesetz

Doch nichts liegt dem judenchristlichen Verfasser des Matthäus-Evangeliums ferner als eine solche Interpretation, das erkennt man daran, dass Jesus seine Rede mit dem Hinweis eröffnet, das Gesetz und die Propheten gerade nicht aufheben zu wollen. Bis zum Ende der Zeiten werde nicht einmal der kleinste Buchstabe dieses Gesetzes vergehen. Kein JOTTA – das ist der kleinste Buchstabe des hebräischen Alphabetes – kein Jotta wird jemals bedeutungslos sein.

Diese hohe Wertschätzung der Thora, der jüdischen Weisung, wie sie sich in den fünf Büchern Mose in der Hebräischen Bibel findet, ist keinesfalls erstaunlich: Denn Jesus war ein gläubiger und thoratreuer Jude. Laut dem Evangelisten Lukas ging er „nach seiner Gewohnheit am Schabbat in die Synagoge“, nach Johannes pilgerte er „mehrmals zu Pessach und anderen Festen nach Jerusalem“ und lebte ganz aus der jüdischen Tradition und Schrift. Und ebendiese Treue zur Thora erwartete er auch von jenen, zu denen er sprach. Auch von heutigen Christinnen und Christen, auch von mir, sagt mir mein Gewissen.

Wie aber sind dann diese Anti-Thesen zu verstehen? Nun: Auslegungen der Thora gehören seit jeher zur jüdischen Tradition. Streitbare Debatten um die Übersetzung der Thora in den Alltag der Menschen waren und sind unter Juden nichts Ungewöhnliches. Es gab und gibt dazu nie nur eine Meinung. Vor diesem Hintergrund sind auch die Streitgespräche Jesu mit den Pharisäern zu verstehen: als gleichsam normale und notwendige Auseinandersetzung unter Juden um die richtige Deutung der Thora.

Pharisäer und Schriftgelehrte

Die Pharisäer wiederum waren zu Jesu Zeiten eine religionspolitische Gruppierung, die im jüdischen Volk überaus beliebt und einflussreich war. Wie bei Jesus stand das Bemühen um ein Leben, das der Thora gerecht wird, im Zentrum ihrer Auslegungen. Neben dem Tempelkult versammelten sie sich in der Synagoge, beteten, lasen die Thora und legten diese aus. Sie ergänzten die Thora durch die Überlieferung der Väter und wollten sie auf diese Weise für die Gegenwart aktualisieren und konkretisieren. Diese Demokratisierung machte sie bei den Menschen sehr beliebt. Wie Jesus glaubten sie an die Engel und die Auferweckung der Toten. So gab es denn auch Pharisäer und Schriftgelehrte, die die Auslegungen Jesu ablehnten und solche, die sie teilten.

Lebenskunst
Sonntag, 16.2.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Die Konflikte, von denen die Evangelien berichten, sind daher eher ein Ausdruck für innerjüdische Auseinandersetzungen zur Zeit der Entstehung des Evangeliums. Denn nach der Zerstörung des Tempels im römisch-jüdischen Krieg 70 nach Christus rangen jüdische Gemeinden um ihre Identität. Nur den Pharisäern und den Anhängern Jesu gelang es, diese Identität auch ohne Tempelkult zu bewahren. Dies führte zu Konkurrenz und Konflikten zwischen den Gemeinden. Als dann im Lauf der Zeit Christinnen und Christen aus anderen Völkern, die sogenannten Heidenchristen, die kirchliche Mehrheit bildeten, wurden die Pharisäer zum Inbegriff des Feindbildes: kleinlich, bigott und selbstgerecht. Historisch aber zeichneten sich die Pharisäer gerade durch ihre ernsthafte Thora-Treue und deren alltagsrelevante Auslegung aus.

Verpflichtung zur Treue

Dies zu wissen, hat Folgen für das Verständnis des vorhin gehörten Evangeliumstextes. Die „Ich aber sage – Euch“-Sätze des Jesus von Nazareth heben die Gebote der Thora nicht auf. Vielmehr vertiefen und spitzen sie diese zu und übersetzen sie in den konkreten Alltag. Die Aufforderung, gerechter zu sein als die Pharisäer und Schriftgelehrten, macht diese nicht zur verachtenswerten Negativfolie, sondern formuliert ziemlich hohe und anspruchsvolle Erwartungen.

Das aber bedeutet: Auch dann, wenn die Pharisäer - die Vorläufer des zeitgenössischen rabbinischen Judentums – die Thora anders oder als mit dem christlichen Glauben nicht vereinbar interpretieren, können und sollen die Pharisäer doch ein Vorbild sein. Die Unterschiede und Differenzen zwischen den Pharisäern und Jesus und seinen Anhängern, zwischen jüdischem und christlichem Glauben, müssen dabei weder verschwiegen noch verwischt werden. Aber die Verpflichtung zur Treue gegenüber der Weisung des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs ist und bleibt ein ziemlich herausfordernder Maßstab auch für Christinnen und Christen.