Bibelessay zu Matthäus 5,38-48

Ein Auge für ein Auge, einen Zahn für einen Zahn. Das kann durchaus als zivilisatorischer Fortschritt angesehen werden. Es schob der ungezügelten Blutrache einen Riegel vor.

Nach der biblischen Legende rühmte sich Lamech, der Vater des Noach, in der sechsten Generation nach Adam so gegenüber seinen Frauen: „Einen Mann erschlage ich für meine Wunde und ein Kind für meine Strieme. Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebenundsiebzigfach.“

Franz Josef Weißenböck
ist katholischer Theologe und Autor

Durchbrochene Muster

Den Feind zu hassen – dieser Satz ist in der jüdischen Bibel, aus der auch der Jude Jesus lebte – und die bei Christen zum Alten oder Ersten Testament geworden ist - nicht zu finden. Offenbar bezieht sich Jesus hier – wie auch sonst immer wieder – auf bestimmte Auslegungen der heiligen Schriften und distanziert sich von diesen Auslegungen und legt seine eigenen vor.

Auge für Auge, Zahn für Zahn – das war einmal, sagt Jesus in der sogenannten „Bergpredigt“. Was er in seiner Programmrede auf dem Berg vorbringt, könnte man mit einem modernen Begriff „pardoxe Intervention“ nennen. Damit wird ein Handlungsmuster durchbrochen und ein üblicher Ablauf verhindert. Schauen wir genauer hin!

Die Nächsten

Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, halt ihm die andere, also die linke, hin. Wenn ein Rechtshänder dem Gegner auf die rechte Wange schlagen will, dann muss er das mit dem Handrücken tun. Das galt im alten Orient als besonders erniedrigend. Darauf die linke Wange hinzuhalten, ist ein erster Schritt zur De-Eskalation: nicht zurückschlagen, sondern zur Milderung der Gewalt einladen. Dem Bösen keinen Widerstand leisten, die Gewalt ins Leere laufen lassen, ja ihr mit entwaffnender Güte begegnen.

Lebenskunst
Sonntag, 23.2.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Aber es kommt noch dicker: Liebet eure Feinde! Ist das Wort „Liebe“ hier angebracht? Ist das überhaupt denkbar, einen „Feind“ zu lieben? Hörte der nicht auf, ein Feind zu sein, wenn man ihn lieben könnte? Auch hier geht es darum, die gebräuchlichen Muster zu durchbrechen.

Die Nächsten – das sind zunächst die Mitglieder der eigenen Familie, der Sippe, der Verwandtschaft, des eigenen Volkes und der eigenen Glaubensgemeinschaft. Alle anderen sind eben genau das: die anderen, die nicht dazu gehören, die – zumindest potenziellen – „Feinde“. Die paradoxe Intervention bedeutet in diesem Fall, diese „Anderen“ wie die „Eigenen“ zu sehen. Sie zu lieben heißt, sie anzunehmen, sie zu achten und zu respektieren, als wären sie Mitglieder der eigenen Familie, des eigenen Volkes, der eigenen Glaubensgemeinschaft.

Gewaltfreies Engagement

Muss man darauf hinweisen, wie brandaktuell diese Sätze der Bergpredigt in unserer aktuellen politischen Situation sind? Mit der Bergpredigt kann man nicht Politik machen. Dieser Satz geht Politikerinnen und Politikern leicht über die Lippen. Vielleicht haben es nur noch zu wenige versucht. Es gibt immerhin Beispiele. Mahatma Gandhi, Nelson Mandela und das Ende des kommunistischen Regimes der DDR durch das friedliche Engagement einer Bürgerbewegung – das ist nicht weit vom Geist der Bergpredigt. Gewaltfreies Engagement kann Mauern zum Einsturz bringen oder schon deren Bau verhindern.

Allerdings bleibt noch genug zu tun und wird es lange bleiben, wenn man an den letzten Satz dieser Evangelienstelle denkt: Ihr sollt vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist.