Was am Ende wartet

Marlen Haushofer beginnt den letzten Absatz ihres Romans „Die Wand“ damit, dass die Protagonistin ihren Bericht, den sie den ganzen Winter über geschrieben hat, an den dämmrigen Nachmittagen, vor denen sie so viel Angst hatte, mit den Worten:

Gedanken für den Tag 14.3.2020 zum Nachhören (bis 13.3.2021):

Dieses Element ist nicht mehr verfügbar

„Jetzt bin ich ganz ruhig. Ich sehe ein kleines Stück weiter. Ich sehe, dass dies noch nicht das Ende ist. Alles geht weiter. Stier, Perle, Tiger und Luchs wird es nie wieder geben, aber etwas Neues kommt heran, und ich kann mich ihm nicht entziehen. Die Erinnerung, die Trauer und die Furcht werden bleiben und die schwere Arbeit, solange ich lebe.

Julian Roman Pölsler
ist Drehbuchautor und Regisseur

Heute, am fünfundzwanzigsten Februar, beende ich meinen Bericht. Es ist kein Blatt Papier übriggeblieben. Es ist jetzt gegen fünf Uhr abends und schon so hell, dass ich ohne Lampe schreiben kann. Die Krähen haben sich erhoben und kreisen schreiend über dem Wald. Wenn sie nicht mehr zu sehen sind, werde ich auf die Lichtung gehen und die weiße Krähe füttern. Sie wartet schon auf mich.“

Ist sie ruhig, weil sie weiter sieht? Kann man ruhiger sein, wenn man weiter sieht? Wie weit können wir sehen, wir, die wir mit geschlossenen Augen auf dem Rücken liegend auf den großen Wasserfall zutreiben? Die Gewissheit, dass dies noch nicht das Ende ist, lässt ihre Heldin ruhiger werden. Aber kann ich wirklich ruhiger werden, auch wenn ich erkenne, dass dies noch nicht das Ende ist? Eines Tages wird es das Ende sein. Wie kann ich ruhig sein, wo ich doch nicht einmal weiß, ob es eines fernen Tages sein wird, oder im nächsten Augenblick? Wie kann ich ruhig sein, wenn ich nicht weiß, was wartet? Letzten Endes: Was wartet auf mich – am Ende? Kein Ende. Sondern eine Verwandlung. Christus sagt: Wer an mich glaubt, der wird ewig leben. Ja. Das glaube ich.

Buchhinweis:

Marlen Haushofer, „Die Wand“, List Verlag

Musik:

Julia Fischer/Violine: „Double - 6. Satz“ aus: Partita für Violine Nr. 1 in h-Moll BWV 1002 von Johann Sebastian Bach
Label: PentaTone classics 5186072