Wenn die Welt stillsteht und nichts mehr ist wie bisher: Was mich in der Krise trägt

Seit vielen Tagen bin ich allein mit mir zu Hause. Und doch so verbunden mit Freunden und Menschen - mit der Welt -, wie fast nie zuvor. Diese widersprüchliche Situation erlebe ich nicht allein: auf der einen Seite tiefe Verunsicherungen, wirtschaftliche Sorgen und auch Ängste, aber auf der anderen Seite Erfahrungen von erstaunlicher Solidarität.

Alle Menschen sind betroffen. Vieles wird jetzt sichtbar, was vorher unsichtbar war. Ich erlebe den erstaunlichsten Wandel in unserer Gesellschaft: Der gesellschaftliche Zusammenhalt, dessen Fehlen ich oft beklagt habe, ist in einer solchen Stärke da, wie ich es nie für möglich gehalten habe. Wertschätzung und Anerkennung für diejenigen, die in Krankenhäusern und anderswo für unsere Gesundheit und die Aufrechterhaltung unserer Infrastruktur sorgen, Anregungen im Umgang mit Einsamkeit, Kreativität, wie wir unseren Zusammenhalt stärken und auch feiern können - diese Lebendigkeit habe ich mir nicht vorstellen können.

Beate Winkler
ist Künstlerin und europäische Menschenrechtspolitikerin

Kollektiver „Entzug“

Doch ich lerne jetzt auch vieles, was ich eigentlich gar nicht lernen wollte: das Wegbrechen von Sicherheiten und vermeintlichen Selbstverständlichkeiten. Ich denke, dass wir uns alle miteinander in einem unfreiwilligen kollektiven „Entzug“ befinden: Entzug von Gestaltungsmöglichkeiten und alltäglicher Routine, Entzug von Ablenkung und Stress, der auch Positives in sich trägt. Auch Abschied von einem Machbarkeitswahn, der mich unbewusst glauben ließ, ich habe das Leben im Griff. Ich befinde mich in einem vollkommen neuen Leben, das ich selbst nicht gewählt habe. Das Alte ist weg und das Neue noch nicht da.

Doch welches Geschenk, das mir vielleicht noch gar nicht so bewusst ist, ist in diesem Stillstand für mich und für andere verborgen? Blick zurück nach vorn: Vor fast 12 Jahren stand ich vor einer Situation, in der vieles in meinem Leben wegbrach. Ich war vorher in einer Spitzenposition der Europäischen Union, hatte die EU-Agentur in Wien, die jetzige EU-Grundrechtsagentur, aufgebaut und sehr lange geleitet. Aus verschiedenen Gründen wurde mir klar, dass es nicht mehr so weiterging auf meinen alten Erfolgspfaden, sondern es war etwas in mir, das nach Veränderung rief.

Neue Bedürfnisse und Wünsche

Ganz ungewohnt für meinen Aktionismus und meine Haltung: „Hier bin ich. Wo ist die Aufgabe?“ beschloss ich, Halt zu machen und mich zu fragen, was will ich eigentlich noch leben. Trotz aller Angst begab ich mich in die Stille und begann, mir zuzuhören. Das hört sich leichter an als es war. Ich durchlief alle Stadien von Trauer, Panik und Leere. Aber in der Stille zeigten sich ganz neue Bedürfnisse und Wünsche: Ich wurde zu meinem eigenen Resonanzboden, der mir vollkommen neue Sichtweisen und Einsichten vermittelte. Auch die Wertschätzung meines früheren Wirkens, in dem ich so vieles gelernt und erfahren hatte.

Jetzt steht Kunst im Mittelpunkt meines Lebens: Ich bin Künstlerin, die ihr menschenrechtspolitisches Engagement nicht vergessen hat. Ich bin so frei und erfüllt in und mit meinem Leben, so im Einklang mit mir selbst, wie noch nie zuvor.

„Halteseile“

Zurück zur Gesellschaft: Wir sind in einer tiefen Identitätskrise - nicht nur wegen Corona. Corona hat sie verschärft. Aber sie war schon vorher da. Wir sind konfrontiert mit tiefgreifenden Veränderungsprozessen in fast allen Lebensbereichen: Digitalisierung, Klimawandel, Migration, Veränderung der Rollen von Mann und Frau etc. Wenn sich in einer Organisation alles zu gleicher Zeit verändert, verliert sie ihre Identität. Genau das geschieht jetzt gesamtgesellschaftlich. Was tun?

Lebenskunst
Sonntag, 29.3.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Neben der Auseinandersetzung mit existentiellen Bedrohungen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Problemen ist es nach meiner Erfahrung das Klügste, in einer solchen Situation innezuhalten, auf die Bedrohungen und vor allem aber auf die Chancen zu achten. Für mich geht es jetzt auch darum, nach neuen Lösungsansätzen zu suchen und nicht die Antworten von gestern downzuloaden für die Fragen von heute: Gesellschaftlich und für mich selbst. Denken und Fühlen wie vor einem leeren weißen Papier. Offen sein für die Offenheit. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es sein kann, Freiheit auszuhalten und meine „Halteseile“, - die da heißen: Erfolg, Aktionismus und etwas bewirken wollen - loszulassen. Der persische Mystiker Rumi bestärkt mich:

Vögel ziehen am Himmel weite Bögen aus ihrer Freiheit heraus.
Wie lernen sie das?
Sie lassen sich fallen
und in dem Fallen
werden ihnen Flügel geschenkt.

Flügel können wachsen

Flügel können mir wachsen, wenn ich Vertrauen habe und auf mich selbst schaue - ein Rendezvous mit mir selbst habe. Halt mache und mich frage: Was macht mich wirklich glücklich? Was will ich eigentlich noch leben? Mehr vom Gleichen oder noch etwas ganz anderes? Fragen nachzugehen, die ich gern vermeide wie: Wie will ich eigentlich sterben? Und meine Gefühle, Wahrnehmungen und Antworten festzuhalten in einem kleinen Heft oder in meinem Smartphone, damit sie nicht vergessen sind und mir weiter zur Verfügung stehen.

Ich kann jetzt noch besser begreifen, dass ich selbst die Gestalterin meines Lebens bin, um an Viktor Frankl zu erinnern. Sicherlich nicht nur, wie die nicht selbst gewählte Corona-Krise zeigt, aber doch in vielerlei Hinsicht.

Für mich ist daher diese Krise ein besonderer Moment, der mich wieder auffordert, inne zu halten und mir selbst zuzuhören. Zu spüren, ob ich in dem Wind, den ich nicht ändern kann, die Segel richtig gesetzt habe oder sie anders setzen sollte. Mir ist noch bewusster, in welcher Fülle von Möglichkeiten ich lebe. Ich sehe noch klarer die Schönheit der Schöpfung - trotz und mit Corona. Diese Chancen zu ergreifen, das ist für mich ein Geschenk, welches mit dieser Krise verbunden ist.

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Beate Winkler