Bibelessay zu Lukas 24,13-35

Manche gehen spazieren, andere machen Nordic Walking, wieder andere laufen oder fahren mit dem Rad; und alle, die das betreiben, tun es zurzeit allein, zu zweit und stets innerhalb des unmittelbaren Lebensumfeldes.

Durch die Maßnahmen im Zusammenhang der Covid-19-Pandemie sind die Lebens- und Tätigkeitsfelder vieler Menschen sehr eng geworden. Viel Gewohntes kann nicht mehr getan werden. Vor allem der Besuch von Bekannten, Verwandten oder Freundesgruppen fällt aus. Und Ausflüge ins Grüne sind überhaupt fast surreal geworden. Denn ihnen fehlt die oft übliche Entspannung danach, die Einkehr in eine Gaststätte, in eine Almhütte oder ähnliches.

Wolfgang Treitler
ist römisch-katholischer Theologe und Judaist

Wenn zwei oder drei miteinander (spazieren) gehen

Jüdinnen und Juden mussten sich dieser Tage auch umstellen: Die Sederabende zu Pessach-Beginn – normalerweise im großen Familien- und Freundeskreis – mussten heuer in einer Klein- bis Kleinstvariante gefeiert werden.

Und nun ist auch der Osterjubel heuer anders, er scheint deutlich gedämpft zu sein. Und so bleibt nicht viel übrig, um sich in der engen Atmosphäre ein wenig zu befreien. Man geht spazieren. Zurzeit sehe ich Leute meist zu zweit gehen. Das Gehen selbst gibt schon etwas an Entspannung. Man geht weg vom Ort, an dem man festgehalten ist. Man lockert gehend den steifen Körper, der meist irgendwo sitzt oder lehnt. Man atmet frischere Luft als die der eigenen Wohnung. Man fühlt den Wind und die Sonne und beginnt aufzuleben, ein wenig zumindest. Und wie von selbst lockern sich auch der Geist und mit ihm die Zunge.

Heute und besonders in diesen Tagen kann man es ebenso erfahren wie in allen Zeiten davor: Wenn man gemeinsam mit einem anderen Menschen geht, beginnt man also irgendwann zu reden. Das Reden beim Gehen hat etwas Eigenes an sich. Halb zielgerichtet wie die Schritte auch, schöpft es aus der Gleichmäßigkeit des Gehens seine Inhalte, und die Inhalte sind bestimmt von Einfällen, die sich einstellen, oder von Erfahrungen, die ins Wort drängen. Freies, assoziatives Reden über alles Mögliche ebenso wie über Schweres und Schönes, über das nun endlich Zeit ist zu reden – weil man geht.

Ein offener Raum

Ich habe es selbst schon mehrfach erlebt, dass in einer solchen Atmosphäre ein offener Raum entsteht, der Platz hat für vieles und für viele. Geschehnisse werden lebendig; eine Person, über die man spricht, wird vergegenwärtigt in einer manchmal besonderen Dichte; ihre Gestalt, ihr Gesicht erscheint, ihre Stimme wird geradezu hörbar. Man fühlt dann eine Gegenwart, die durch das Gehen zu zweit sich ausweitet und andere mitnimmt, ins Gehen genauso wie ins Gespräch. Irgendwann spricht man nicht mehr nur von dieser Person, sondern es ist, als spreche man mit ihr; sie ist zugegen und geht mit. Sehr eindringlich fühle ich das, wenn ich mit meiner Familie auf dem Weg zum Grab eines Menschen bin, mit dem uns sehr viel verbunden hat. Gehend und nachdenkend kommen wir ihm wirklich näher, gehen zu ihm hin, und auf den letzten, lang schon vertrauten Metern ist es, als ginge er mit uns – nein, er geht mit uns, anders als wir gehen, aber er geht mit uns.

Lebenskunst
Ostermontag, 13.4.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Das ist Vergegenwärtigung im Gehen. Bleibt man stehen und setzt sich nieder, kommt diese Vergegenwärtigung an ihr Ende und löst sich auf. Diese Erfahrungen sind uralt, sie sind menschlich, sie sind menschheitlich. Das heutige Lukasevangelium erzählt ebenso von ihr. Wenn ich das bedenke, was sich beim Gehen einstellt, brauche ich nicht auf ein Wunder einer undurchschaubaren Gegenwart Jesu setzen, die sich zufällig einstellt und, man weiß nicht wie, plötzlich wieder entzieht.

Gehend nie allein

„Die Tora, also die Fünf Bücher Mose, die Tora braucht landläufige Redewendungen“, heißt es öfter im Talmud, dem Kommentar jüdischer Gelehrter zur Bibel und zum religiösen Leben im Judentum. Das gilt für das Neue Testament auch. Es gebraucht landläufige Redewendungen über landläufige Erfahrungen, die keineswegs seicht sind, sondern in eine geheimnishafte Tiefe weisen: in die wunderbare Anwesenheit von Menschen, die zustande kommt, wenn zwei oder drei beginnen zu gehen. Wenn man so geht, gehen einem fast immer die Augen auf und über.

So gesehen, gehört der Osterspaziergang zu den besten Übungen des Osterfestes. Für diese engen Tage der Covid-19-Pandemie gilt das wohl noch mehr. So wünsche ich Ihnen einen befreienden Osterspaziergang und die Erfahrung, dass Sie gehend nie allein sein werden – es kommt fast immer jemand hinzu, und vielleicht sogar jemand, der sie gefahrlos überrascht.