West begegnet Ost, Goethe und Hafis

So unbefangen über „den Orient“ zu schreiben wie Goethe vor 200 Jahren, fällt uns heute einigermaßen schwer. Für die Schwierigkeit, „Orient“ zu sagen, steht nicht zuletzt das bis heute einflussreiche, 1978 erstmals erschienene Buch „Orientalism“ des aus Palästina stammenden Literaturwissenschaftlers Edward Said.

Gedanken für den Tag 20.4.2020 zum Nachhören (bis 19.4.2021):

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Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Occident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.

Zentrale These des 2005 verstorbenen Autors ist, dass der Orient eine Erfindung des Westens, insbesondere jener wissenschaftlichen Disziplin sei, die sich mit dieser nahen und zugleich fernen Weltgegend beschäftigt: die Orientalistik. Der Diskurs über die fremde, andere Kultur verfolgt demnach stets ein und denselben Zweck: sich durch negative Abgrenzung selbst positiv zu bestimmen. Der (überlegene) Westen ist dabei immer das schiere Gegenteil des negierten Orients: fortschrittlich, frei, friedlich, sexuell gleichberechtigt und modern.

Wolfgang Müller-Funk
ist Literaturwissenschaftler

Menschliche Gesamtkultur

Spätestens seit den Anschlägen von 2001 hat sich das Bild der Kulturen des nicht immer ‚nahen‘ Osten im Westen spürbar verdüstert. Seither stehen einander, oft quer zu den eingespielten politischen Fronten, kompromisslose Kritiker des Islam und unnachgiebige Kämpfer gegen Rassismus und „Islamophobie“ in einer oftmals sterilen Kontroverse gegenüber. Während die einen die nachbarlichen, keineswegs einheitlichen Kulturen des „Nahen“ Ostens oft pauschal abkanzeln, versuchen die andern, jedwede Kritik als rassistisch zu denunzieren. Das alles führt dazu, am besten gar nichts mehr über die östlichen Kulturen in der europäischen Nachbarschaft zu sagen. Das würde freilich das Ende jeden Dialogs bedeuten.

Mit seinem Werk hat Goethe einen ganz anderen Weg beschritten. Nicht nur geht er wie Herder davon aus, dass die verschiedenen Kulturen dieser Welt einen Beitrag zu einer menschlichen Gesamtkultur leisten. Vielmehr sucht Goethe auch die Ähnlichkeit zwischen ihnen, so zwischen der westlichen und den Kulturen des Nahen Osten. Deshalb beginnt er im West-östlichen Divan das Gespräch mit einer Welt, die fremd und zugleich nah ist. Deshalb zitiert er zuweilen auch aus dem Koran.

Buchhinweise:

  • Edward W. Said, „Orientalismus“, Verlag S. Fischer
  • Johann Wolfgang von Goethe, „West-oestlicher Divan“, dtv
  • Hafis, Johann Christoph Bürgel, „Gedichte aus dem Diwan“, Verlag Reclam

Musik:

(Aladdin) Marketplace aus: Aladdin/Film/Soundtrack von Alan Menken Label: Polydor CD 5192322