„Wahres Leben“

Die utopische kommunistische Idee des Systemwechsels ist ebenso gescheitert wie der katholische Versuch, geschlossene gegenkulturelle Räume aufzubauen. Das populistische Projekt nationalistischer Retro-Utopien aber kann nur in den Abgrund einer Eskalationsspirale nach unten führen. Es gibt kein „wahres Leben“, weder im „Falschen“ und schon gar nicht in einem imaginären „Richtigen“.

Gedanken für den Tag 2.5.2020 zum Nachhören (bis 1.5.2021):

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Was es aber gibt, ist weniger falsches Leben im weniger Falschen. Es gibt im Christentum das Wissen, den Glauben und die Erfahrung, dass die Gnadenlosigkeit des Kapitalismus nicht alternativlos ist. Die realen Landschaften unserer Städte und Dörfer wie die individuellen Erinnerungslandschaften des christlichen Glaubens sind voller Orte leistungsbefreiten Da-Seins, voller Kunstwerke und Zeichen, die einen ganzen symbolischen Raum der Gnade und der Freiheit jenseits der vorherrschenden Semantiken und Symboliken des Kapitalismus eröffnen.

Rainer Bucher
ist katholischer Theologe an der Karl-Franzens-Universität in Graz

Das Leben tanzen

Das Christentum verfügt über Räume, in denen sich Alternatives zum Kapitalismus ereignet: der Kultus des Gottesdienstes und die Tat der Nächstenliebe in Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, aber auch die Freude des gemeinsamen Feierns. All dies ist Ausdruck der befreienden Liebe und der bedingungslosen Hinwendung Gottes zum Menschen und das genaue Gegenteil einer gewinnorientierten Verwaltung der Welt.

Offene, leicht zugängliche christliche Erfahrungsorte, die in „unaufdringlicher Antreffbarkeit“ jene Landschaft christlicher Ereignisräume der Freiheit und der Gnade schaffen, die es im Kapitalismus dringend braucht. Das wäre vom Christentum zu leisten.

„Wir vergessen so oft die Musik deines Geistes. Wir haben aus unserem Leben eine Turnübung gemacht. Wir vergessen, dass es in deinen Armen getanzt sein will“, so hat das die französische Mystikerin Madleine Delbrêl gesagt.

Das Leben tanzen in den Armen von Gottes Liebe: Der Kapitalismus kann das nicht, kann man es in unseren Kirchen lernen?

Musik:

Chet Baker, Gerry Mulligan, Carson Smith und Chico Hamilton: „My funny Valentine“ aus dem Musical „Babes in arms“ von Richard Rodgers
Label: Universal/Playboy Jazz 7230250