Bibelessay zu Johannes 15,1 – 18

In unserem Kirchengarten gibt es einen kleinen Weinstock. Die Kinder der Gemeinde haben ihn im Herbst gepflanzt. Seither gehe ich regelmäßig daran vorbei. Im Winter war es ein eher armseliger Anblick: Ein kleines Stämmchen, nicht länger als ein Blatt Papier. Daran ein dürres Zweiglein, das offensichtlich auf den Stamm aufgepfropft wurde.

Seit einigen Tagen aber ist der Weinstock voll Leben: er hat begonnen, voll Kraft auszutreiben und hat inzwischen unzählige leuchtend grüne Blätter.

Stefan Schröckenfuchs

ist Superintendent der evangelisch-methodistischen Kirche in Österreich

Der Weinstock und die Reben

Weinstöcke sind Pflanzen, die in der Bibel oft vorkommen. Häufig tauchen sie als Bild für ein gutes Leben auf. Z.B. im 1. Königebuch, wo die gute Herrschaft des König Salomo damit beschrieben wird, dass jeder in Frieden und Sicherheit unter seinem Weinstock sitzen kann (1.Kön 5,5). Umgekehrt werden Notsituationen mit Bildern von verstümmelten und verdorrten Weinstöcken beschrieben (z.B. Joel 1,6-12).

Und man findet auch das Bild vom Weingärtner und seinem Weingarten – und zwar als Vergleich für die Beziehung Gottes zu seinem Volk (z.B. Psalm 80 oder Jeremia 2,21). Dieser Vergleich ist spannend, weil er zwei Dinge deutlich macht: Einerseits zeigt er, dass der Gott der Bibel sich um sein Volk sorgt und es wie einen Weinstock pflegt. Andererseits spricht es das Bild an, dass Gott Erwartungen an sein Volk hat – und wie ein Weingärtner eine bestimmte Ernte erhofft. Und die spannende Frage ist, was denn diese Ernte ist!

Eine Antwort darauf findet man bei Jesaja im sogenannten Alten oder Ersten Testament im „Lied vom Weinberg“ (Jesaja 5,1-7). Am Ende wird da in einem Reim beschrieben, was Gott erhofft - und was er vorfindet: „Und er hoffte auf Rechtsspruch, doch seht: Rechtsbruch! Und auf Gerechtigkeit, doch seht: Schlechtigkeit!“ (Jes 5,7 Zürcher Übersetzung).

Frucht im Sinne Gottes

Dieses Lied vom Weinberg hat somit einen mahnenden Unterton. Dennoch zeigt es die besondere Eigenart der Beziehung zwischen Gott und den Menschen auf: Der Gott der Bibel ist den Menschen achtsam zugewandt. Wie ein Weingärtner will er Voraussetzungen schaffen, damit Menschen gut leben und gedeihen können. Wie ein Weingärtner hofft Gott auch auf eine Ernte. Das Besondere aber ist: Die „Ernte“ kommt nicht nur Gott zugute - sondern auch den Menschen. Denn die Ernte soll nichts anderes sein, als dass Menschen in Frieden und Gerechtigkeit miteinander leben.

Lebenskunst
Sonntag, 3.5.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Es ist gut, dieses Bild von der Beziehung Gottes zu den Menschen mitzuhören, wenn man die Worte aus Johannes 15 hört. „Ich bin der wahre Weinstock“, sagt Jesus aus Nazareth hier, „mein Vater ist der Weinbauer.“ Auch hier geht es darum, dass der Weinstock Frucht bringen soll. Frucht im Sinne Gottes: nämlich Gerechtigkeit, Liebe, Güte und Treue.

Der Verfasser des Johannesevangeliums benennt die Voraussetzung dafür, dass Früchte wachsen können: „Eine Rebe kann aus sich selbst heraus keine Frucht tragen. Dazu muss sie mit dem Weinstock verbunden bleiben.“ (Joh 15,4 Basisbibel). Das leuchtet ein: Schneidet man einen Trieb vom Weinstock ab, so vertrocknet er und bringt keine Frucht. Dieses Bild überträgt Johannes auf die Beziehung zwischen Jesus und seinen Jüngern. Sie sollen mit Jesus in Verbindung bleiben. Nur so wird ihr Leben – im Sinne Gottes – Frucht bringen.

Früchte wie Gerechtigkeit, Liebe, Güte und Treue

Es ist ein Vergleich, an dem ich mich auch reibe, weil er sehr exklusiv klingt. Der biblische Verfasser, der sich von seiner jüdischen Herkunftsreligion gelöst hat, hat diese Worte gegen Ende des 1. Jahrhunderts so geschrieben. Heute frage ich mich: Was ist mit Menschen, die keine Beziehung zu Jesus haben? Sind sie wie abgeschnittene Zweige, die man einfach wegwirft oder gar verbrennt? Das entspricht nicht meinem Bild von Gott.

Man kann in dem Bild aber auch die Brücke sehen, die Jesus für viele Menschen sein kann. Franz Rosenzweig, Historiker, Philosoph und bekennender Jude, hat es so formuliert: „Was Christus und seine Kirche in der Welt bedeuten, darüber sind wir einig: Es kommt niemand zum Vater denn durch ihn (Johannes 14,6). Es kommt niemand zum Vater - anders aber wenn einer nicht mehr zum Vater zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist.“

So gesehen überwiegt der Zuspruch: Was Gott von mir erhofft muss ich nicht aus eigener Kraft schaffen. Es wächst, solange ich „dran bleibe“ und mich nähren lasse – auch von Jesus, mit dem ich mich verbunden weiß. Und was da wächst, dient letztlich auch mir selbst: Es sind Früchte wie Gerechtigkeit, Liebe, Güte und Treue.