Bibelessay zu Johannes 14,1-12

Der Textabschnitt aus dem Johannesevangelium stammt aus den sogenannten „Abschiedsreden“ des Jesus aus Nazareth und wurde gegen Ende des ersten Jahrhunderts von einem aus dem Judentum kommenden Autor verfasst.

Diese Abschiedsreden bahnen eine Krise an, nämlich die letzten Tage Jesu in Jerusalem, seine Ermordung und für Christen die Auferstehung. Ich finde, es ist ein anspruchsvoller Textabschnitt, ich werde ein paar Gedanken herauszuschälen versuchen.

Helga Kohler-Spiegel
ist katholische Theologin, Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin und lehrt an der Pädagogischen Hochschule Feldkirch in Vorarlberg

Vor der Krise

Der Text ist in der Form einer Rede rhythmisiert: Die Aussagen Jesu werden zuerst unterbrochen durch eine Frage von Thomas. Diese Frage ermöglicht weitere Ausführungen Jesu, bevor Philippus wieder fragend unterbricht, worauf wieder Erklärungen Jesu folgen. Das Missverstehen der Jünger ist also ein wichtiges Element im Text und in der Beziehung zwischen Jesus und den Jüngern. Oder anders gesagt: Es ist gut, wenn wir einander nicht zu schnell verstehen, sondern nachfragen, dadurch kann etwas deutlicher werden.

An Übergängen kommt oft Wichtiges zur Sprache. Ich kenne das – und vielleicht haben manche Menschen jetzt angesichts der Covid-Krise, in der sich die Welt befindet, diese Erfahrung ebenso gemacht: Manchmal getraue ich mich erst an Übergängen oder in Krisen auszusprechen, was ich mir schon lange denke, vielleicht, wie groß meine Zuneigung ist, vielleicht auch, wie sehr mich etwas belastet. Und wieder: Dadurch kann etwas besser sichtbar werden, und wir können uns (hoffentlich) besser verstehen.

Fortgehen und Wiederkommen

Im Zentrum des Textes stehen christliche Glaubensaussagen: Es geht um das Fortgehen und Wiederkommen Jesu, es geht um die Angst in der Zeit dazwischen und um den guten Platz, den Menschen bei Gott haben, weil die „Wohnung“ – wie es Jesus aus Nazareth im Text nennt – bereits vorbereitet ist. Es geht – wie im Glauben von Christinnen und Christen so oft – um die Zusage, auch bei schwierigen Übergängen und in Krisen: Habt keine Angst.

Lebenskunst
Sonntag, 10.5.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Dies ist eingebettet in die Frage: Wer ist dieser Jesus und wer ist dieser Gott? Mir hilft es oft, mir den Inhalt eines Textes visuell als Szene vorzustellen. Da haben wir auf der einen Seite Jesus und seinen „Vater“, wie Jesus Gott nennt. Und – kurz in Klammern gesagt: „Vater“ ist ein Bild für Gott, wie alle anderen Bilder auch. Und bei aller Ambivalenz dieses Bildes ist es ein Versuch, Vertrauen und Zuwendung auszudrücken.

Zurück zur Szene: Da haben wir auf der einen Seite Jesus und seinen „Vater“. Da haben wir auf der anderen Seite die Jüngerinnen und Jünger. In der Bewegung des Gesprächs wird sichtbar: Zum einen steht Jesus bei den Jüngern, er ist mit ihnen unterwegs, sie haben ihn erlebt und kennenlernen können. Zugleich aber steht Jesus ganz beim „Vater“. Dies verwirrt die Jünger. Sie schauen auf Jesus und fragen: Was jetzt? Wie bleiben wir in Verbindung, wenn du beim „Vater“, bei Gott bist? Was sollen wir tun?

Wenn sichtbar wird, wer Gott ist

Jesus versucht ihnen das deutlich zu machen: „Ihr seid mit mir unterwegs, ihr kennt meine Taten: Wenn jemand ausgeschlossen ist, setzt euch mit ihm an den Tisch und nehmt ihn auf. Wenn jemand gekrümmt ist, richtet ihn auf, wenn jemand krank ist, macht ihn gesund. Ihr habt Wunder gesehen, das sind ‚Geschichten mit unerwartet gutem Ausgang‘, ihr habt gesehen, dass wir uns so verhalten können, dass Geschichten einen guten, manchmal sogar einen unerwartet guten Ausgang nehmen.“ Und genauso ist Gott, sagt Jesus bei Johannes.

Johannes drückt damit aus: „Wenn ihr Jesus seht, wisst ihr, dass Gott genau so ist: nicht unberechenbar, nicht drohend oder gar bestrafend, sondern wie Jesus, zugewandt und nah. Dies ist der Glaube von Christinnen und Christen: Menschen können auf Jesus schauen, seine Handlungen und seine Worte, und so sehen sie, wie Gott selbst ist.