Ist die Lüge amüsanter als die Wahrheit?

Herr Münchhausen hat zu Unrecht einen schlechten Ruf. Noch 300 Jahre nach seiner Geburt muss er sich als Lügenbaron beschimpfen lassen. Und so manche schlechte Ausrede wird als Münchhausiade bezeichnet. Dabei fabulierte er nur gerne und das durchaus fabelhaft.

Gedanken für den Tag 12.5.2020 zum Nachhören (bis 11.5.2021):

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Eine seiner Geschichten, die viel Wahrheit zu erzählen vermag, ist die Geschichte von den eingefrorenen Tönen. Münchhausen reiste im strengen Winterfrost mit der Postkutsche nach Russland. Der Postillion versuchte, mit seinem Horn vor einer Kreuzung ein Zeichen zu geben. Er blies aus Leibeskräften in sein Horn, um ein entgegenkommendes Fahrzeug zu warnen. Aber nicht ein einziger Ton kam heraus. Trotzdem kamen sie unbeschadet in der Herberge an. „Der Postillion hängte sein Horn an einen Nagel beim Küchenfeuer, und ich setzte mich ihm gegenüber“, erzählte der Baron. Und plötzlich fing das Horn zu spielen an. „Die Töne waren in dem Horne festgefroren und kamen nun, so wie sie nach und nach auftauten, hell und klar hervor.“

Michael Chalupka
ist Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche in Österreich

Aufgetaute Töne

Das ist ein wunderbarer Gedanke: Töne, Kompositionen oder Texte, die zuvor gedacht oder gespielt wurden, in eisigen Zeiten, zur Unzeit vielleicht, werden in der Wärme der Stube zur rechten Zeit wieder lebendig und gewinnen dadurch neue Bedeutung, erfreuen und inspirieren uns von neuem. Das geht uns so mit der Musik oder alten Texten der Literatur. Auch wenn sie vor langer Zeit gespielt oder notiert wurden, sie können immer wieder neu zum Leben erweckt, gehört und empfunden werden.

Den Christinnen und Christen geht es so mit den biblischen Texten. In ihnen sind die uralten Erfahrungen der Menschen mit ihrem Gott und ihresgleichen, die sie in Krisen und Nöten und glücklichen Momenten durchlebt haben, gleichsam eingefroren. Diese Töne aus der Vergangenheit liegen bereit, immer wieder aufgetaut zu werden und auf wunderbare Weise neu im heutigen Leben zu erklingen. Diese Erfahrung ist uns nicht fremd. Warum sollte Münchhausen nach seiner winterlichen Reise durch Russland sich nicht auch an den aufgetauten Tönen erfreut haben?

Musik:

Heinz Holliger/Oboe und Academy of St. Martin in the Fields unter der Leitung von Iona Brown: „Allegro - 1. Satz“ sus: Konzert für Oboe, Streicher und B.c. in f-moll von Georg Philipp Telemann
Label: Philips 4128792