Bibelessay zu Johannes 14,15-21

Ausatmen – ausatmen – Pause – einatmen. Ich spüre, wie mein Atem kommt und geht. Ich nehme wahr, wie er in mir fließt, dieser Strom des Lebens. Bei Tag und bei Nacht. Jede Stunde und jede Minute.

Meist atme ich unbewusst, kurz und flach. Manchmal atme ich bewusst, langsam und tief, so wie jetzt. Aus und ein, aus und ein. Atmen, nichts anderes. So komme ich der stärksten Kraft meines Lebens wieder näher. Ich werde ruhig und gesammelt. Ich bin bei mir.

Josef Schultes
ist römisch-katholischer Theologe und Bibelwissenschaftler

Atmen im Rhythmus des Johannesevangeliums

Ausatmen – ausatmen – Pause – einatmen. Für mich stimmt dieser Rhythmus. Ich praktiziere ihn seit Jahrzehnten. Kennengelernt habe ich ihn bei Meditations-Kursen mit P. Klemens Tilmann. Ich bin ihm dafür sehr dankbar. Beim Üben in der Gruppe hat er dann immer wieder vier Worte zur Vertiefung wiederholt: Loslassen – niederlassen – einswerden – kommenlassen. Meditatives Atmen. Wie Karlfried Graf Dürckheim hat auch P. Klemens oft eine personal-christliche Form gewählt: Los von mir – hin zu Dir – eins mit Dir – neu aus Dir.

Warum erzähle ich von einem Atem-Rhythmus, der in die Tiefe führt, und warum rede ich von Meditation? Weil sich mir damit ein Zugang zur Bibel eröffnet hat, den mein Kopf, mein kritischer Verstand nicht bieten kann. Und weil, so erlebe ich es immer mehr, weil gerade das Evangelium nach Johannes aus der Meditation schöpft und zu ihr hinführen will. Wie auch mit dem eben gehörten Text.

„Ich bin im Vater - ihr seid in mir“

„Ihr werdet erkennen“, heißt es da, „ihr werdet erkennen: Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir und ich bin in euch“ (V.20). An diesem Satz bleibe ich hängen, er spricht mich unmittelbar an. „Ihr werdet erkennen“: So beginnen nämlich viele Verse im Alten, im Ersten Testament. „Ihr werdet erkennen, dass ich der Herr, euer Gott, bin“, heißt es etwa im Buch Exodus und besonders oft beim Propheten Ezechiel. Johannes verwendet diese Formulierung, wendet sie aber entscheidend um. Seine veränderte spirituelle Sicht bringt er auch sprachlich auf den Punkt: „Erkennen werdet ihr: Ich in meinem Vater und ihr in mir und ich in euch“.

Lebenskunst
Sonntag, 17.5.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Und so übersetzt, nahe am griechischen Original, zeigt sich ganz klar, warum mich dieser Vers unmittelbar anspricht. Denn da leuchtet er wieder auf, jener Vierer-Rhythmus, der mein Atmen und Meditieren seit langem prägt: „Erkennen – ich im Vater – ihr in mir – ich in euch“. Ich lasse meinen Atem ruhig fließen. Aus und ein, aus und ein. Dann spreche ich diese inhaltsdichten Worte noch einmal, langsam und bewusst.

Ich-bin-Worte

Dieses „Ich“, im griechischen Urtext steht dafür egó, dieses „Ich“ weist zurück auf einen Bibelabschnitt, der im katholischen Gottesdienst vergangenen Sonntag gelesen worden ist. Dort hat es geheißen: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Eines der Egó eimí-Worte, der ICH BIN-Worte. Sie sind mit ihrer Siebenzahl typisch für die Theologie des Evangeliums nach Johannes. Auch in diesem Text finde ich meine vier vertrauten Stufen zur meditativen Achtsamkeit: „ICH BIN – Weg – Wahrheit – Leben“.

In seinem sehr lesenswerten Buch „Ich bin das Licht der Welt“ schreibt dazu Peter Trummer, der emeritierte Professor für Neues Testament an der Universität Graz: „Gerade die Ich-bin-Worte laden dazu ein, sie auch selbst nachzusprechen, um am Gottesbild Jesu im eigenen Menschsein zu reifen“ (S.40).

Am Gottesbild Jesu im eigenen Menschsein reifen. In beengter Zeit die eigene Mitte suchen und sie ein Stück weit auch finden. (Vielleicht in einem Vers des heutigen Evangeliums): Ein Angebot dafür findet sich im vorhin gehörten Text aus der Bibel: „Erkennen – ich im Vater – ihr in mir – ich in euch“.