Frühling einer neuen Zeit

Welches Fest der Sinne! Welche Üppigkeit! Überall sattes Grün, Orangenbäume, Hyazinthen, Rosen, Glockenblumen. Dazwischen Frauen in transparenten, blumengeschmückten wehenden Gewändern.

Gedanken für den Tag 19.5.2020 zum Nachhören (bis 18.5.2021):

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Wenn ich heute den Frühling mit einem einzigen Bild beschreiben müsste, kommt mir sofort ein Werk in den Sinn: Botticellis „Primavera“. Das auf Holz gemalte, um 1482 entstandene Gemälde hängt in den Uffizien in Florenz und wird in Nicht-Corona-Zeiten tagtäglich von Tausenden Touristen bewundert.

Bunt und rätselhaft

Das Erstaunliche ist, dass Botticellis „Frühling“ mehr als 500 Jahre nach seiner Entstehung gefragter ist denn je  und längst den Weg von der Kunst in die Alltagskultur, die Modewelt und den Lifestyle gefunden hat. Von Kleidern über Tapeten bis zu Duschhandtüchern gibt es alles im Primavera-Look zu kaufen.

Johanna Schwanberg
ist Direktorin des Dom Museum Wien

Das auf den ersten Blick so gefällige Bild ist bei genauerer Betrachtung eines der geheimnisvollsten der Kunstgeschichte. Denn in der Lichtung eines Orangenhains sind acht Figuren versammelt; über der mittleren schwebt ein blinder Amor. Wahrscheinlich sind es mythologische Figuren: Venus, Flora, der Windgott Zephyr und eine Nymphe sowie drei Grazien und Merkur.

Woher bezog Botticelli seine innovativen Bildideen, welche literarischen Quellen inspirierten ihn? Handelt es sich bei „Primavera“ um ein Bild der Liebe, um eine Glorifizierung der Erotik, vielleicht der Ehe? Oder geht es vielleicht doch nur um den Frühling selbst?

Fragen über Fragen hat dieses Bild seit Jahrhunderten aufgeworfen. Es hat Scharen von Forschern und Forscherinnen zu den unterschiedlichsten Deutungen motiviert. Kein Wunder: Allein schon der mythologische Themenkreis war ein Wagnis ins Unbekannte, hatte sich die europäische Kunst doch in den Jahrhunderten davor vor allem christlichen Themen gewidmet. Botticelli war maßgeblich daran beteiligt, die Mythenmalerei zu einem eigenen Genre zu machen – eine der größten Errungenschaften der Renaissance.

Mich begeistert der Mut Botticellis, Wege einzuschlagen, die nicht vertraut sind. Besonders aber mag ich die Offenheit seiner Bilder. Sie zeigen mir, dass Fragen entscheidender sind als vorschnelle Antworten. Wie langweilig wären doch Kunst und Leben, wenn sie einen nicht stets mit Situationen konfrontieren würden, die so bunt und rätselhaft sind wie Botticellis „Frühling“.

Musik:

Emily Van Evera/Sopran, Nancy Hadden/Flöte, Erin Headley/Viola da gamba, Lirone, Christopher Wilson/Laute, Gitarre und Robert Meunier/Laute: Pavana „La cornetta"
Label: Chandos 8333