Bibelessay zu Apostelgeschichte 1.1-11

Ein Anfang hat etwas Verlockendes an sich und auch etwas Unklares. Vielleicht liegt die Verlockung in der Unklarheit. Denn noch ist fast alles offen und formbar. Erste Linien zeichnen sich ab. Doch wohin sie weisen, lässt sich noch nicht abschätzen.

Verlockung und Unklarheit sind zunächst etwas Gutes. Wenn etwas verlockt, so zieht es einen Menschen an. Es weckt Erwartungen, neue Perspektiven. Was verlockt, lädt einen Menschen ein, einen Weg zu beginnen. Daher lässt sich in einem solchen Anfang irgendein Versprechen entdecken, eine Einladung, eine Zusage, die sich auf das Kommende richtet.

Wolfgang Treitler
ist katholischer Theologe und Judaist

Himmelfahrten und Lebenswege

Der Anfang der Apostelgeschichte, der heute in den katholischen Gottesdiensten gelesen wird, spiegelt genau das. Lukas, der Autor der Apostelgeschichte, verspricht einem Mann namens Theophilus eine neue Geschichte: die Geschichte einer Gruppe, die sich nicht mehr an den Gewandsaum des Jesus hängen kann, sondern nun auf eigenen Füßen stehen und gehen muss. Denn mit Christi Himmelfahrt beginnt ein neuer Abschnitt für die Leute um Jesus.

Während der Auferweckte dem Himmel gehört, in den sie starren, wird ihnen verdeutlicht: Das Ende, von dem Lukas in seinem Evangelium erzählt hat, ist für sie der Anfang neuer Wege ins Unbekannte. „Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel empor?“ Diese Frage schickt sie weg vom Ölberg auf Wege, die sie noch nicht gegangen sind. Es geht zwar zunächst zurück nach Jerusalem, doch dort werden sie ganz anders leben als bisher, ganz anders reden als bisher und mit neuen Bewegungen zu tun bekommen, von denen sie nichts geahnt hatten. Das lockt sie mit einem Versprechen, das sich kaum in Worte fassen lässt.

Anfänge, die sich bewähren

Und doch weiß man: Die neuen Wege werden auch ihre Härten haben. Manchmal werden sie bis zur Verzweiflung schwer sein. Das wird das Versprechen des Anfangs verdunkeln, jedoch nicht ganz auslöschen; immer noch lässt sich nachspüren, wie es gelockt hat. Manch ein Mensch mag in späte Resignation fallen, sich getäuscht fühlen und verführt. Das trifft dann wohl auf die Verlockungen zu, die mit falschen Versprechen gewunken und Vertrauen missbraucht haben.

Lebenskunst
Donnerstag, 21.5.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Doch die Anfänge, die sich bewähren, bleiben einem Menschen nahe, auch in den kalten, finsteren, einsamen Stunden. Es hat etwas Eigenes an sich, wenn ich mich in solchen Zeiten an Anfänge erinnere, die bis heute ihre Frische bewahrt haben. Das erste rotfarbene Kinderfahrrad, das ich an einem herrlichen Frühlingsnachmittag geschenkt erhielt; der erste Schultag im Gymnasium; die erste Langspielplatte, die ich immer noch habe und höre; das erste Buch, das ich mir als Theologiestudent gekauft habe, ein Bildband mit Gemälden aus dem Leben des Jesus aus Nazareth; der erste Diensttag an der Universität; der erste Schrei meiner Kinder nach der Geburt, etwas zittrig oder kräftiger, je nachdem; der erste Schritt auf Israels Boden.

Wege nach Ostern

Wahrscheinlich verklärt sich manches von diesen Anfängen in der Rückschau. Ist man, wenn man das tut, sentimental? Dass es verdächtig sein soll, wenn man sentimental wird, ist selbst verdächtig. Das Eingedenken von Anfängen, das Eingedenken der Versprechen, die sie enthielten – warum soll es nicht von tiefer Empfindung begleitet sein? Warum soll es nicht anrühren? Warum soll es nicht berühren?

So lese ich den Anfang der Apostelgeschichte als ein Versprechen, das auf neue Wege lockt. Sie sind offen, sie sind formbar und jeder Mensch geht ihn einmalig. Das sind die Wege nach Ostern. Es sind Lebenswege, denen ihr Anfang innerlich bleiben wird. Und wer weiß, wohin sie uns tragen werden?