Was mich in der Krise trägt

Die Corona-Krise hat auch mein Leben auf den Kopf gestellt. Beruflich schlage ich mich – statt im Hörsaal vor Studierenden zu stehen - mit Tonaufzeichnung und Videoschnitt herum. Unser Familientreffen haben wir erstmals per Videokonferenz absolviert und auch gesellschaftlich ist mir das Leben in seinen gewohnten Formen zum größten Teil weggebrochen.

Eines allerdings ist von alldem völlig verschont geblieben: meine Beziehung zu Father Leonard, dem katholischen Ordenspriester in Südindien, der sich seit mehr als 25 Jahren mit seiner Vidiyalgemeinschaft um die Ärmsten der indischen Gesellschaft kümmert! Er geht an die Ränder, in die Dörfer, zu den Dalits, den Frauen, den Jugendlichen, zu den AIDS-Kranken und HIV-Infizierten… Mit ihm pflege ich mit unserem kleinen Verein VANAKKAM Freundschaft über die geographische Distanz hinweg. Telefon und E-Mail, WhatsApp und Skype bleiben auch in Zeiten von Corona intakt.

Peter Schönhuber
ist Assistenzprofessor an der TU Wien, Pfarrgemeinderatsmitglied in der Wiener katholischen Pfarre zur Frohen Botschaft. In der katholischen Pfarre St. Markus in Linz unterstützt er den dortigen Fachausschuss für Entwicklungspolitik bei der Vanakkam-Projektarbeit.

Keine Zeit für Reden, Zweifeln, Grübeln

Der Ausbruch der Pandemie hat recht unterschiedliche, teils gegenläufige Entwicklungen ausgelöst. Hier die einen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, und da diejenigen, deren Arbeitsbelastung sich schlagartig erhöht hat! Auf der einen Seite die tödliche Bedrohung durch Infektion und Ausbruch der Krankheit, auf der anderen Seite die Menge der schlecht oder gar nicht sozial und wirtschaftlich Abgesicherten, für die die drohende Hungersnot viel größer und bedrohlicher als eine Infektion mit dem Virus ist.

Father Leonard kennt die Situation der indischen Landbevölkerung nur zu gut. Er weiß um die fragilen Lebensbedingungen der landlosen Taglöhnerfamilien. Sie benötigen den Lohn am Ende des Arbeitstages. Tagsüber keine Arbeit heißt abends kein Lohn, kein Geld für Lebensmittel, als unmittelbare Folge Hunger! Und so sagt Father Leonard gleich zu Beginn der Krise „Wir müssen etwas tun!“ Und ich ertappe mich dabei, dass in meiner Frage „Was willst du machen?“ ein spürbarer Zweifel mitschwingt! Damit hält sich die Gemeinschaft jedoch nicht auf, es ist schlicht keine Zeit für Reden, Zweifeln, Grübeln. Sie beginnen ihre eigenen Nahrungsmittelvorräte zu verschenken! Und als alles weg ist, kaufen sie Grundnahrungsmittel, Reis in 25 kg Säcken, Öl in Literkanistern, kistenweise Hülsenfrüchte,…

Die Kraft der Nächstenliebe

Sie starten die Aktion „Food for a Month“, ein Monatspaket für eine Familie kostet 1100 Rupien, ca. EUR 14,-. Leonard fragt mich, ob wir die Aktion mitfinanzieren können und wie viel wir beisteuern können. Ich sage ihm: „Ich weiß es nicht!“ Ich gebe zu bedenken, auch in Österreich sind viele Menschen in große, unüberwindbare Schwierigkeiten geraten, leiden unter Jobverlust, unter Einsamkeit, durchleben wirklich schwierige Situationen.

Lebenskunst
Sonntag, 24.5.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Dennoch schreibe ich einen Aufruf, und das Unwahrscheinliche geschieht! Die ersten Spendengelder treffen ein, eine unglaubliche Welle der Hilfsbereitschaft schwillt an und begleitet uns. Und jeden Tag der Blick aufs Spendenkonto, wieder Zahlungseingänge und die Nachricht an die Vidiyalgemeinschaft: „Ja, ihr könnt weitermachen, kauft die nächste Tranche Reissäcke!“ So kann die Vidiyalgemeinschaft in wenigen Tagen über 1400 Familien helfen, über 35 Tonnen Reis ausliefern.

Und mir dämmert, welche ungeheure Kraft Mitmenschlichkeit, Solidarität entwickeln kann. Eine Kraft, die in uns schlummert, derer wir uns manchmal gar nicht bewusst sind. Die Kraft der Nächstenliebe.

Am DU zum ICH

Natürlich ist das Problem des globalen Südens mit derartigen Aktionen nicht auch nur ansatzweise gelöst. Ich bin kein Entwicklungsexperte und maße mir nicht an, die komplexen globalen Zusammenhänge zu verstehen und schon gar nicht lösen zu können. Aber es drängt mich, Stellung zu nehmen, nicht wegzuschauen, nicht mit den Achseln zu zucken, „Da kann man nichts machen“! Sondern: „Ja, ich sehe und verstehe und bin bestürzt darüber, in welch tragischem Zustand sich unsere Welt befindet!“

Je mehr Familien in Südindien Hilfe erfahren, umso mehr Anfragen erreichen die Vidiyalgemeinschaft, aus der Nachbarpfarre, aus umliegenden Dörfern. Es wird weiter Hilfe brauchen, ich werde wieder Aufrufe schreiben und betteln! Immer wieder werde ich für den solidarischen Zusammenhalt, auch über geografische Entfernung hinweg, werben. Das ist es, was Orientierung, Perspektive gibt. Es ist diese Gewissheit, ein kleines Stück umsetzen zu können, zumindest einigen wenigen Menschen für eine kurze Zeit helfen zu können.

Wir Menschen brauchen einander, wir sind füreinander da. Oder wie Martin Buber es in seinem „ICH und DU“ formuliert „Der Mensch wird am DU zum ICH“. Auf diese Gewissheit lässt sich bauen, sie gibt mir Vertrauen, sie trägt mich, auch jetzt in der Krise.