Bei sich und beim anderen sein

Wer richtig liebt, der will ganz beim anderen sein – so ist zumindest das Klischee. Doch dass das dauernde Zusammensein nicht immer ganz einfach ist, das haben viele Menschen in den vergangenen Wochen bei sich zu Hause gemerkt.

Morgengedanken 29.5.2020 zum Nachhören (bis 28.5.2021):

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In Zeiten wie diesen, in denen unser Zusammenleben und unsere Begegnungen mit einschneidenden Veränderungen zurechtkommen mussten; in Zeiten wie diesen über die Liebe zu sprechen, ist wohl eine Herausforderung, ja, vielleicht sogar eine Zumutung.

Angelika Pressler
ist Psychotherapeutin und Theologin aus Salzburg

Liebende und Alleinstehende

Denn mit einem Male waren Eltern und Kinder, Partner und Partnerin einander nahezu ununterbrochen ausgeliefert, oder völlig getrennt voneinander. Der Rhythmus von Alltäglichkeit und Besonderheit musste neu erlernt werden, und oft war gerade das unablässige Dasein des geliebten Gegenübers die größte Herausforderung, um nahe sein zu können. Vielleicht war manchmal sogar das schreckliche Gefühl von Einsamkeit da, ich erlebe mich als ein Wesen, getrennt von der Umwelt; und der andere ist nur mehr bedrohlich in seiner Andersartigkeit, ist ein Fremder, obwohl wir zusammen sind. Auch das ist ein Gesicht der Liebe: Dass ich mich – zuweilen schmerzhaft – getrennt vom geliebten Menschen erlebe, obwohl er ja da ist, aber ich bin allein. Doch gerade die Fähigkeit, allein sein zu können, ermöglicht es, den anderen in seiner Andersartigkeit zu sehen, zu respektieren und neu zu entdecken.

Liebe, tiefe Liebe zu einem Du, kann ja auf Dauer nicht davon leben, dass ich im anderen aufgehe, verschmelze, ein Teil von ihm werde. Liebende müssen also auch Alleinstehende sein, bei sich sein können, um dann wieder ganz beim andern zu sein.