„untertauchen ins unausweichliche“

„längst schon versuche ich / die gängigsten gebete / zu rekonstruieren“, schreibt Ernst Jandl in seinem Gedichtband „peter und die kuh“. Ich wollte wissen, warum Gebete für seine Gedichte wichtig geworden waren. Wir hatten vereinbart, für eine Sendung der Reihe „Logos“ über ganz konkrete Gedichte zu sprechen.

Gedanken für den Tag 5.6.2020 zum Nachhören (bis 4.6.2021):

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Schon das war ein Erlebnis – wie Jandl diese Texte in mein Mikrophon sprach. Eines davon war das Gedicht „klebend“, das den Anfang des apostolischen Glaubensbekenntnisses variiert: „Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde.“ Es verstört und tut weh, was Ernst Jandl aus diesem Gebet macht:

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

klebend

ich klebe an gott dem allmächtigen vater
schöpfer himmels und aller verderbnis
und an seinem in diese scheiße hineingeborenen sohn
der zu sein ich selber mich wähne um mich schlagend
um mein maul aus diesem meer von kot in die luft zu halten
und immer noch atem zu kriegen warum nur
weil ich ein von maßloser feigheit gesteuertes schwein bin
unfähig willentlich unterzutauchen ins unausweichliche

Wer sich an dem Wort „Scheiße“ im religiösen Kontext stößt, sollte hinhören auf das verzweifelte Ich, das in diesem Gedicht nach Atem ringt. Dieses Ich klebt an Gott, kommt also nicht los von ihm und wähnt sich selbst als Gottes Sohn. Jandl sagte mir dazu: „Dass ich mich nicht für Jesus halte, ist klar, aber aus meiner frühen religiösen Zeit habe ich die Vorstellung, dass ich ein Geschöpf Gottes und damit auch sein Sohn sei.“

Der Schluss des Gedichtes ist ein unverhohlener Hinweis auf den Suizid, und sein Sprecher bezichtigt sich der Feigheit, weil er nicht willentlich untertaucht in den Tod, der sowieso unausweichlich ist. Aber liest man noch einmal das ganze Gedicht, so ist es gerade dieses Kleben an Gott und die Vorstellung, sein Geschöpf, sein Sohn zu sein, die dieses Ich davon abhält, sich das Leben zu nehmen.

Vorsichtig fragend sagte mir Ernst Jandl zu diesem Gedichtschluss: „Vielleicht lieber den Atheismus meiner Mannesjahrzehnte hinter sich lassen als auf etwas möglicherweise unerhört Wertvolles, nämlich die Vorstellung des Eingebettetseins des menschlichen Lebens in eine höhere Ordnung, die von Gott bestimmt ist, zu verzichten.“ Ernst Jandl war sich bei aller negativen Sicht auf das Leben in einem ganz sicher: dass in der Vorstellung von Gott eine große menschliche Kraft liegt.

Musik:

Rodney Kendrick Trio: „Blue Monk“ von Thelonious Monk
Label: Telarc CD 83413