„him hanfang war das Wort“

Zum 20. Todestag von Ernst Jandl: Immer wieder lese ich Gedichte von Ernst Jandl. Manche freilich muss ich hören – am besten, wenn der Autor selbst sie liest. Am nächsten bin ich Jandls Gedichten allerdings gekommen, als ich sie abschreiben musste.

Gedanken für den Tag 6.6.2020 zum Nachhören (bis 5.6.2021):

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Ich habe an der Universität Vilnius österreichische Literatur zu einer Zeit unterrichtet, als Litauen noch von der Sowjetunion okkupiert war. Da konnte man nicht einfach Texte kopieren. So habe ich zum letzten Mal in meinem Leben Texte mit Kohlepapier und Durchschlägen abgetippt, darunter auch etliche Jandl-Gedichte. Manchmal muss man dabei höllisch aufpassen: Wenn Jandl wie in dem bekannten „lechts und rinks“ Buchstaben systematisch vertauscht, macht ein einziger Tippfehler das System kaputt.

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

Ein Text, bei dem es wehtut

Kompliziert wird das bei dem Gedicht „fortschreitende räude“. Es bildet das Krankheitsmuster der Räude, die Zerstörungen in einem Tierfell, in einem Text ab – dem Beginn des Johannesevangeliums. Anfangs rutscht einfach vor jedes Wort, das mit einem Vokal beginnt, der Buchstabe h hinein. Das klingt dann so:

him hanfang war das wort hund das wort war bei
gott hund gott war das wort hund das wort hist fleisch
geworden hund hat hunter huns gewohnt

In weiterer Folge wird der Text immer mehr zerstört, bis er schließlich mit „flotsch“ endet. Dieses Gedicht war ursprünglich in Jandls Gedichtband „Laut und Luise“ von 1966 enthalten, doch der katholische Schweizer Walter Verlag entfernte es und schloss gleich auch sein literarisches Programm. Jandl hat später erklärt, er habe den Prolog des Johannesevangeliums gerade deswegen gewählt, weil er einen Text brauchte, bei dem es einem wehtut, ihn so verrotten zu sehen.

So wie Arnulf Rainer bei seinen Übermalungen des Kreuzes nicht das Symbol des Kreuzes zerstören wollte, wollte auch Ernst Jandl durch kein Gedicht einen religiösen Text zerstören. Im Gespräch sagte er mir: „Ich glaube, dass ein gewisses Spiel mit religiösen Vorstellungen diese nicht unbedingt in Frage stellen muss und nicht unbedingt das Ziel hat, sie in anderen Menschen zu zerstören.“ Und ich muss bekennen: Hätten Ernst Jandl und andere nicht ein produktives künstlerisches Spiel mit religiösen Bildern und Formeln in Gang gesetzt, wären sie in mir wohl nicht lebendig geblieben.

Musik:

The Modern Klezmer Quartet: „Shein vi di levology“ von Chaim Tauber, bearbeitet von Bob Applebaum
Label: Global Village Music CD 156