Bibelessay zu 4 Mose 6,22-27

„Du hast uns heute nicht gesegnet!“, sagt Hilde ganz empört zu mir, als ich mich wie jeden Sonntag nach dem Gottesdienst an der Kirchentüre von ihr verabschiede. Es stellt sich schnell heraus: Ich habe nicht auf den Schlusssegen vergessen. Hilde war in Gedanken versunken, und der Segen ist irgendwie an ihr vorbeigezogen.

Die Worte, die Hilde vermisst hat, haben Sie gerade gehört. Segensworte, die gemäß der biblischen Überlieferung Gott selbst dem Mose offenbart hat, damit er sie an Aaron, den Erzvater des israelitischen Priestertums, weitersage. Es ist Tradition in evangelischen Pfarrgemeinden, am Schluss des Gottesdienstes der Gemeinde diese Worte zuzusprechen.

Maria Katharina Moser
ist Direktorin der Diakonie Österreich

Die Kraft des Segens

Für viele Gläubige ist der Segen ein besonderer Moment im Gottesdienst. Ja, für manche ist der Segen sogar der Grund, den Gottesdienst zu besuchen – das wissen wir aus Studien. Denn im Segen liegt Kraft. Eine lebensfördernde und heilschaffende Kraft. Auf Latein heißt Segen benedictio. Bene dicere – wörtlich: gut heißen, gut reden. Im Segen wird die Zuwendung Gottes erfahrbar, wird den Menschen das Glück, das Gott für sie will, zugesprochen.

Der aaronitische Segen entfaltet die vielen Dimensionen dieses Glücks: „Gott segne dich und behüte dich“: Gott schenke dir Leben und alles, was ein gutes Leben ausmacht. Wohl-Sein, Gedeihen, Lebenskraft.

Gerechtigkeit für ein glückliches Leben

„Gott lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig“: Das Angesicht Gottes ist im Alten oder auch Ersten Testament ein Ausdruck für Gottes Gegenwart. Wenn die Bibel vom Angesicht Gottes spricht, erzählt sie von der Beziehung Gottes zu den Menschen. Im Leuchten des Angesichts zeigt sich diese Gegenwart positiv und liebevoll. Das Bild knüpft an an eine Alltagserfahrung: Im Gesicht spiegelt sich die innere Verfassung unseres Gegenübers. Dass jemand positiv gestimmt ist, erkennen wir an seiner oder ihrer heiteren Miene. Das Licht des Angesichts Gottes ist aber auch so hell, dass es alles ausleuchtet, dass nichts verborgen bleibt. Im Licht des Angesichts Gottes wird Unrecht aufgedeckt. Ein glückliches Leben braucht gerechte Lebensbedingungen. Auch diesen verschafft der Segen Geltung.

Wenn der Segen Gnade zuspricht, schenkt er den Gläubigen die Gewissheit: Gott hört die Klagen und die Bitten derer, die um ihr Leben bangen, die Bitten jener, denen Unrecht getan wird, aber auch die Bitten derer, die auf Vergebung hoffen.

Lebenskunst
Sonntag, 7.6.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Frieden ist ein Geschenk

„Gott erhebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden“: Vielleicht kennen Sie das aus Gesprächen? Sie sprechen mit einer Person, aber diese schaut Sie nicht an. Kritzelt auf ein Blatt Papier, wischt am Smartphone herum, schaut aus dem Fenster. Hat ihr Gesicht von Ihnen abgewendet. Den oder die anderen nicht anzusehen, drückt Desinteresse aus, Ablehnung, manchmal auch Abscheu und Bestrafung: So wie du dich verhältst, würdige ich dich keines Blickes.

Auch im Zuspruch „Gott erhebe sein Angesicht über dich“ knüpft der aaronitische Segen an Alltagserfahrung an. Wenn Gott sein Angesicht über jemanden erhebt, verheißt das bleibende Vergebung und Zuwendung. In dieser Gegenwart Gottes Frieden zu finden, shalom, ist der Ausblick, die Wegzehrung, mit der die Gläubigen aus dem Gottesdienst entlassen werden und zurückgehen in ihren Alltag. Dieser Frieden ist ein Geschenk. Als Christin glaube ich: Wir können ihn uns nicht verdienen. Aber wir können ihn einander wünschen. In diesem Sinne: Shalom und seien Sie gesegnet!